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Reportagen und Berichte von Gerd Müller/GMC Photopress

Klimawandel: Ohne radikalen Paradigmenwechsel schaufeln wir unser eigenes Grab

Auszug aus dem Buch des Zürcher Fotojournalisten Gerd M. Müller. Das ganze Manuskript ist als E-Book Version vorhanden und Leseproben finden Sie hier.

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Vorwort

Das Buch des Zürcher Foto-Journalisten Gerd Michael Müller nimmt Sie ab den wilden 80er Jahren mit auf eine spannende Zeitreise durch 30 Länder und 40 Jahre Zeitgeschichte mit Fokus auf politische Skandale und ökologische Vorgänge in Krisenregionen rund um den Globus. Er beleuchtet das Schicksal indigener Völker, zeigt die Zerstörung ihres Lebensraumes auf, rückt ökologische Aspekte und menschenliche Schicksale in den Vordergrund, analysiert scharfsichtig und gut informiert die politischen Transforma-tionsprozesse. Müller prangert den masslosen Konsum und die gnadenlose Ausbeutung der Ressourcen an, zeigt die fatalen Auswirkungen wirtschaftlicher Ausbeutung, gesellschaftlicher Fahrlässigkeit und politische Ignoranz auf und skizziert Ansätze zur Bewältigung des Klimawandels. Pointiert, hintergründig und erhellend erzählt Müller anhand seiner persönlichen Erlebnissen aus seiner investigativen Reise und Reportagetätigkeit für nahmhafte Medien rund 30 Länder.

Nun zum Kaptitelauszug

Ohne radikalen Paradigmenwechsel schaufeln wir unser eigenes Grab

Panoramic view from Piz Nair to Julier mountains in the upper Engadin. Due to the global climate change the glaciers and the permafrost are melting rapidely. © GMC

Fakt ist, seit den 70er Jahren hat sich die Weltbevölkerung mehr als verdoppelt und der Konsum hat sich weltweit mehr als verzehnfacht, wobei die Schweiz hier beim Konsum an der Spitze steht. Die Hyper-Globalisierung hat ihren Zenit längst erreicht und dabei viel politisches, humanitäres und soziales Kapital verspielt. Spätestens seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie wurde uns in Erinnerung gerufen, wie fragil unsere ökonomisch durch- rationalisierte und digitalisierte Gesellschaft geworden ist und wie schnell sich – von einem Tag auf den anderen – alles ändern kann. So wie die Borkenkäfer ganze Wälder absterben lässt, zeigt ein unsichtbarer, fataler Virus seit zwei Jahren seine Wirkung rund um den Globus. Ob wir daraus etwas gelernt haben, wie wir unsere Zukunft gestalten und den Umbruch ohne weitere Verzögerungen angehen müssten, wird sich weisen. Es scheint aber, dass wir weiterhin in der Endlosschlaufe verharren und die substanziellen Massnahmen das Übel an der Wurzel zu packen, weiterhin aufschieben. Der «Great Reset» wie Klaus Schwab es am «WEF» formuliert hat, ist ausgeblieben und wird so schnell nicht kommen. 

Heart Reef in the Whitesundays, which has been partly destoyed by the climate change. © GMC

Die Politik betreibt noch immer eine Pflästerli-Strategie. Es zeigt sich, dass wissenschaftliche Erkenntnisse und die weltweit akute Bedrohungslage durch den Klimawandel es nicht vermögen, die Gesellschaft und Wirtschaft zum radikalen Umdenken zu bewegen. Egoismus und der ungezügelte Turbo-Kapitalismus mit Ressourcenabbau und Wachstum „auf Teufel komm raus“, sind leider noch immer der Motor der Gesellschaft. Eine solche Transformation erfordert viel Selbstreflektion, Verantwortung und Solidarität. Das alles ist leider ausser Mode geraten. Das Geschrei und Gebrüll auf den (a)sozialen Medien und in den Filterblasen überhört jede Nuance der Debatte und unterbindet jeden echten Dialog, jeden Ansatz von Solidarität sowie die Fähigkeit „Über den eigen Horizont hinaus zu sehen“. So betrachtet, sind die Schweizer engstirnig, wie sie schon immer waren, geblieben.

Äusserst bedauerlich, aber nicht weiter verwunderlich, ist es da auch, dass die Schweizer Bevölkerung 2021 sowohl die Trinkwasser-, als auch die Pestizid- und die CO2-Initiative an der Volksurne bachab geschickt hat und die Konzernverantwortungsinitiate am Ständemehr gescheitert ist. Damit hat die Schweiz keinen Plan und keine Strategie mehr, wie sie die CO2-Reduktion in den Griff kriegt. Es dürfen also weiterhin Pestizide gespritzt werden, was das Zeugs hält, was die Bauern freut. Als Musterschüler gelten wir längst nicht mehr, mit dem Finger auf andere zeigen, geht nun einfach nicht mehr, wir müssen uns zuerst an den eigenen Haaren raufen.Gut, die Covid-19 Krise hat die Lust auf neue Restriktionen und neue Innovationen geschmälert. Doch die Schweizer Wirtschaft ist insgesamt mit einem blauen Auge davon gekommen, bis auf gewisse Kreise, wie die Tourismus- Gastro- und Eventbranche, aber auch die wurden hierzulande durch die Kurzarbeitslosengelder zumeist gut entschädigt und die Landwirtschaft wird weiterhin subventioniert.

Australia: A big bush fire due to the dryness due tot he global climate change. © GMC

Daher ist es nur folgerichtig, wenn die Klimajugend die Grünen radikal links überholt bzw. überflügelt und eine viel raschere und konsequentere Vorgehensweise fordert. Covid-19 kostet uns Milliarden, fügten wir aber ein paar Milliarden für die Transformation der Wirtschaft hinzu, hätten wir enorm viel gewonnen. Die Rüstungsbudgets sollten weltweit eingefroren und zur Bekämpfung des Klimaandels eingesetzt werden. Wir müssen unbedingt weitere Pandemien vermeiden, da allein würde sich jede Klima-Investition lohnen. Jeder von uns hat es in der Hand, dazu beizutragen, doch geht es nicht mehr ohne einschneidende Schritte in nie gekanntem Ausmass. Lieb gewonnene Lebensweisen werden sich stark verändern müssen. Insbesondere müsste man bei der Bekämpfung von Pandemien, bei einer drastischen Reduktion der Abholzung in tropischen Ländern anfangen, denn es zeigt sich das der sogenannte Spillover für die das vermehrte Auftreten von Pandemien verantwortlich ist. So nennen BiologInnen den Vorgang, bei dem Krankheitserreger von (Wild-) Tieren auf den Menschen überspringen. Durch Spillover entstehen Zoonosen, also Krankheiten mit tierischem Ursprung. Laut einer Studie der britischen Zoologin Kate Jones entstanden zwischen 1940 bis 2004 insgesamt 335 neue Infektionen, wovon 60 Prozent tierischen Ursprungs waren. Dazu gehörten das Influenza-A-Virus, der Vogelgrippe-Virus H5N1, das Napah-Virus und vermutlich eben auch Sars und Covid-19. Einer der bekanntesten Wissenschaftler, der sich mit Zoonosen beschäftigt, ist Serge Morand, ein in Thailand lebender Evolutionsbiologe und Parasitenforscher. Auch durch die Viehzucht, die nachweislich zum Abholzen führt, entstehen Zoonosen trotz Antibiotika-Einsatz. Umweltzerstörung, Klimawandel, Tierseuchen und Epidemien stehen also in engem Zusammenhang mit Ökologie, Tier- und Humanmedizin

Snow machines are using a lot of water like here in Davos-City on Jakobshorn and Parsenn. © GMC

Jeder von uns kann viel tun, indem wir den Fleischkonsum reduzieren, Foodwaste vermeiden, lokale, saisonale Produkte kaufen, auf ständig neue Kleider und Smartphones verzichten, den öffentlichen Verkehr statt das Auto nutzen und Flugreisen auf das nötigste einschränken, viel mehr Gebäude auf erneuerbare Energien umgerüsten, die Heizungen runterschrauben und selbst produzierte überschüssige Energie zu vernünftigen Preisen ins Netz einspeisen. Elektrostationen für E-Autos und E-Bikes müssten massiv ausgebaut werden, auch müssen wir die Solar- und Windenergie viel besser nützen, den Gewässerschutz konsequenter anwenden, alle Subventionen für die fossile Energiegewinnung einstellen, im Flugverkehr international eine hohe Treibstoffbesteuerung einführen, sodass der Flugverkehr erheblich reduziert wird – bis der Treibstoff der Luftverkehrsindustrie grüner geworden ist. In der Geschäftswelt sollte eine CO2-Fussabdruck-Bilanzierung in den Unternehmen und steuerliche Anreize für die Reduktion eingeführt werden. Beim (um-)Bau die nachhaltige Gebäudetechnik fördern, Bodenversiegelung vermeiden und in der Forstwirtschaft, alters- und artengemischte Wälder kultivieren.

Die Gletscher schmilzen, der Steinschlag nimmt zu in den Alpen. Das Val d’ Anniviers im Wallis. © GMC

Ferner sollte der Staat vermehrt Anreize für sinnvolle Aufgaben im Sozial-, Bildungs-, Gesundheitswesen aber auch im Natur- und Umweltschutz schaffen. Aufgaben gäbe es mit dem Klimawandel zur Genüge und statt dass der Staat immer mehr Sozialhilfegeld bezahlt, sollten die brachliegenden menschlichen Ressourcen für den klima-neutralen Umbau unserer Gesellschaft eingesetzt werden, aus allen Alters- und Bildungsschichten, Kultur- und Sprachräumen. De Facto finden ja nur wenige Arbeitnehmer über 50 Jahre alt wieder eine Stelle. Warum also sollten sie nicht entsprechend ihren Qualifikationen für soziale Aufgaben und Natur- und Umweltschutzprojekte eingesetzt und mit einem Grundeinkommen entschädigt werden, denn wir müssen eine permanente Spitex für die Natur einrichten. Kommen wir zu den einzelnen Wirtschaftsbereichen und ein paar Vorschlägen und was konkret getan werden kann.

Bauwirtschaft/Cementindustrie/Gebäudesanierung:

Die Zementindustrie ist eine der grössten CO2-Schleudern nach der Öl- und Kohleindustrie. Dabei gibt es schon längst alternativen, nachhaltigere Baustoffe, die vielerorts zum Einsatz kommen könnten. Beim Bau oder der Sanierung von Gebäuden gibt es viel Potential. Da ist zunächst einmal eine gut gedämmte Gebäudehülle, die auch mit Hanfziegelsteinen und Hanfvlies vorgenommen werden können. Bei einer dichten Gebäudehülle sinkt durch die Isolation der Energieverbrauch im Winter. Energiesparende Häuser brauchen eine gute Durchlüftung der Räume. Gas- und Ölheizungen sind Auslaufmodelle und sollten durch Erdsonden und Wärmepumpen ersetzt werden, umsomehr, wenn auf dem Dach oder am Gebäude Solarpanels angebracht werden, wodurch der Strom für die Wärmepumpe und das heisse Wasser von der Sonne her kommt. Mit einer Fotovoltaikanlage können viele Hauseigentümer sich autark mit Strom versogen und zwischen 60 bis 80 Prozent des Bedarfs abdecken. Mit LED Beleuchtung, energieeffizienten Haushaltsgeräten und einer Ladestation für E-Autos sind sie gut aufgestellt und sparen in Zukunft erhebliche Betriebskosten. In der Schweiz sind die Pensionskassen und grossen Immobilienfirmen in der Pflicht dieses Ziel rasch umzusetzen.

Ernährung: Unser aller Kernproblem ist es, dass jedes Jahr 80 Millionen Menschen hinzukommen und die jetzt erst geboren haben theoretisch eine höhere Lebenserwartung, auch in den Entwicklungsländern. Bis Ende des Jahrhunderts werden wir elf Milliarden Menschen sein, die immer mehr Lebensraum beanspruchen und noch mehr Landwirtschaftszonen für die Nahrungsmittelproduktion brauchen. Es kann nicht sein, dass wir allein mit der Viehwirtschaft für die Fleisch- und Milchproduktion ganze Artenbestände und wichtige Ökosysteme unwiederbringlich vernichten. Eine vegane Ernährung wird daher zum obersten Credo für die wachsende Weltbevölkerung.

Mobilität: Auto:

Die Mobilität in der Schweiz verschlingt ein Drittel des gesammten CO2-Verbrauchs. Schuld daran ist der Wahn und die Liebe zu SUVs also zu den „Saumässig Umweltschädlichen Vehicles“. Kein Land der Welt fährt mehr MonsterAutos und zumeist erst noch mit einer einzigen Person im Fahrzeug. Sorry liebe Auto-Liebhaber und PS-Protzer, bescheuerter geht es nicht! Daher gibt es nur eine Lösung: Benzin- und Diesel müssten vorerst drastisch stärker besteuert und bis 2030 verboten werden, sodass das Umsteigen auf E-Autos rasch attraktiver gemacht wird. Öffentliche Parkplätze sollten in den Metropolen nach und nach dezimiert werden und rasch verschwinden. Dafür sollten an den Peripherien mehr E-Bikes, E-Cars Terminals bereitgestellt werden und in den Städten hauptsächlich der öffentliche Verkehr mit Hilfe von mehr E-Mobilität ausgebaut werden. Wohlgemerkt: Bei einer Fahrt von 100 Kilometern werden 300 kg Gletschereis vernichtet. Das ärgste der Unvernunft sind zwei, drei Kilometer Fahrten zur Kita oder Einkäufe in der Umgebung.

Bahn:

Der Bahnverkehr muss zumindest in der Schweiz erheblich verbilligt werden. Als Beispiel ist Österreich zu nennen, das einen erschwinglichen Preis für ein Jahresabo eingeführt hat. Dort kann man nun ein ganzes Jahr im ganzen Land für weniger als der Preis eines Schweizer Halbtaxabos herumfahren. Das stösst die Trendwende im ÖV gewiss kräftig an, doch die SBB hinken der Entwicklung äusserst lahm hinterher.

Luftverkehr:

Ein Europaflug verursacht rund 5190 Kilogramm Gletscherschmelze in den Alpen – und das jeden Tag tausendfach. Daher müsste eine CO2-Abgabe weltweit auf alle Flüge auch auf Transportflüge erhoben werden, damit die Industrie sich auch hier technisch umstellt und die Fun-Vielflieger in die Schranken gewiessen werden oder einen adäquaten CO2-Kompensations-Beitrag leisten.

Schiffstransporte:

Die Frachtschifffahrt verschlingt Unmengen von Diesel. Je mehr wir lokale Produke fördern und kaufen, umso weniger muss von weit hergeholt oft tausende Kilometer transportiert und verteilt werden. Auch die Schifffahrt muss sich mit neuen Treibstoffen, Segelantrieb und Windturbinen auseinandersetzen und volle Fahrt in Richtung Energiewende aufnehmen.

Reichtum-Umverteilung in der Finanzindustrie und bei den Superreichen:

Kein Mensch auf der Erde braucht Milliarden, soviel ist glasklar. Warum nicht weltweit eine Obergrenze für Superreiche setzen und beispielsweise jeden Dollar über einem 50 Millionen Vermögen einziehen und so die für den Klimawandel nötigen Mittel bei den Superreichen eingetreiben? Die Rohstoffkonzerne und Tech-Giganten (Google & Co.) müssten ebenso ihren Beitrag leisten, wie die Krypto-Schürfer und Big-Data-Miners, da sie oft zu den grössten CO-2 Emmitenten gehören.

Kriegswirtschaft/Rüstungsindustrie: Weltweites Moratorium und Umrüstung

Wie schon kurz erwähnt, sollten sich alle Staaten zusammenraufen und für fünf oder zehn Jahre lang ein Kriegsmaterial-Moratorium einführen und die eingesparten Mittel für den Klimaschutz und die CO2-Reduktion ausgeben, denn die Menschheit wird in den kommenden Dekaden einen globalen Kampf zur Rettung unseres Planeten ausfechtn müssen, den sie aus heutiger Sicht offensichtlich zu verlieren scheint. Um diesen Krieg gegen unseren Untergang zu überleben, brauchen wir keine Waffen, Panzer, U-Boote und Flugzeuge. Diese nützten uns allesamt nichts, wenn wir in Folge von Hunger, Durst, Verwüstung und infolge Verteilkämpfe sterben. Keiner kommt aus dieser Geschichte ungeschoren davon. Kein Nationalismus schützt uns vor dieser Krise.

Konsumgüterindustrie:

Heute werden viele Billigprodukte so konstruiert, dass sich nach Ablauf der Garantiezeit schon bald einmalersetzt werden müssen, entweder, weil sie (mangels Ersatzteilen oder durch die Konstruktion) nicht repariert werden können oder weil sie von Anfang an für ein kurzes Leben konzipiert und angefertigt wurden. Wenn man sich anschaut, in welcher Qualität Bauteile, Maschinen, Kleider usw. frührer gebaut wurden, die zum Teil generationenübergreifend weitergereicht wurden. Qualität vor Quantität ist die Losung: Die Produkte müssten also so gefertigt sein, dass sie mindestens zehn oder zwanzig Jahre verwendet werden können

KonsumentInnen:

Wir unterschätzen unsere Rolle und unser Einfluss beim Konsumverhalten, auch wenn ein einzelne Person vermeintlich wenig bewirken kann.Wir können in allen Lebensbereichen Zeichen setzen und die Hebel umlegen.

Landwirtschaft:

Ich habe es bereits angesprochen und es ist uns allen klar, dass wir die Böden und die Gewässer nicht noch stärker vergiften dürfen.Wenn die KonsumentInnen ein klares Zeichen setzen und die Politik die Subventionen für Viehwirtschaft und intensive Monokultur-Agrarwirtschaft streicht, kommen wir auch hier in die Gänge und verhelfen den Bauern, die ökologischen Anbau betreiben mit den gestrichenen Subventionen für die Trinkwasser und Gewässervergifter. Wie in Holland könnten auch in der Aglomeration rund um die Städte riesige Anbaugebäude entstehen, wo Obst und Gemüse vertikal viel effizienter und sparsamer angebaut werden kann und bestens gedeiht sowie einfacher und automatisierter geerntet werden kann und erst noch dem lokalen Markt zur Verfügung stehen. Es gibt bereits Supermärkte, die auf ihrem Dach einen Biogarten haben und das Obst und Gemüse ein paar Meter über den Verkaufsflächen angebaut wird.

Plastik-Verpackung:

53 Kilogramm Einwegplastik landen in der Schweiz pro Kopf und Jahr im Abfall, im Wasser oder sonstwo in der Umwelt. Damit zählt die Schweiz zu den grössten Verbrauchern im Ranking nach Singapur (76 kg), Australien (59 kg), dem Oman (56 kg) und ist gleichauf wie Belgien, die Niederlande und Hong Kong. Bis 2040 werden weltweit 1,3 Milliarden Tonnen Plastik die Umwelt und die Gewässer belasten. Natürlich müsste die Verpackungsindustrie neue Verpackungsmaterialen verwenden, doch es liegt auch an den VerbraucherInnen, von wem, wie und was sie einkaufen.

Städteplanung/Selbstversogung/Soziales:

Angesichts des rasanten Biodiversitätsverlustes und der Verödung der Städte, frage ich mich schon lange, warum nicht all die nutzlosen Rasenflächen vor allen Miet- und Wohnhäusern zu Gärten für geneigte Hobby-Gärtner und Selbstversorger unter den Anwohner/innen umfunktioniert werden und gerade die ärmeren Leute und solche mit Migrationshintergrund und Agrar-Know-how ihre Nahrung teilweise vor dem Haus anbauen könnten. Das würde auch der Armut ein wenig entgegensteuern und vielen Familien das Überleben garantieren sowie sinnstiftend sein. Warum sollten wir alle Lebensmittel aus Afrika, China und Lateinamerika importieren, wenn wir mit lokalem Anbau unsere Städte verschönern, die Biodiversität steigern, dabei das lokale Gewerbe stärken die Selbstversorgung erhöhen und dadurch die CO2-Emmissionen signifikant verringern könnten. Wir sollten darüber nachdenken, was unsere Gemeinden eigentlich mit ihren Gemeindeflächen machen. Zumeist schaffen sie grosse Anbau-Strukturen, statt die kleinräumige, lokale Bewirtschaftung und die Biodiversität zu fördern. Das muss sich ändern.

Textilindustrie:

Sie ist eine der dreckigsten Industrien nach der fossilen Rohstoffindustrie. Zehntausende von Menschen leiden in Indien und Bangladesh nicht nur an Ausbeutung sondern an schwersten und irreparablen Krankheiten, Unfruchtbarkeit und vieles mehr. Hier gibt es nur einen Weg, liebe Ladies. Verzicht und nochmals Verzicht, weniger Kleider, dafür qualitativ bessere. Der Fast-Fashion-Wahnsinn muss ein Ende haben. Viel mehr gibt es hier nicht zu sagen.

Windenergie:

Schottland und Norwegen machen es vor. Die Schotten haben jetzt schon keine CO-2 Emissionen mehr, weil sie soviele Windparks aufgestellt haben, dass sie sogar grünen Strom exportieren können. Viele Gemeinden finanzieren diese Anlagen selbst mit ihre Anwohnern und werden so nicht nur von der Stromversorgung unabhängig sondern auch noch zu grünen Stromlieferanten. Auch in Norwegen ist die Windenergie zu einem Motor der grünen Energie geworden. Überdies bietet das Land offenbar ideale Bedingungen, um CO2 tief unter die Erde in Holräume einzuspeisen und dort zu lagern. Co2 kann verflüssigt und so in die Tiefe der Erdschichten gepumt werden. In der Schweiz fristet die Windenergie ein Schattendasein. Doch auch hier und auch in vielen weiteren Teilen der Welt liessen sich Windräder aufstellen. Bei uns auf den Seen, in den Alpentälern, wo der Föhn ständig bläst, auf Alpenkämmen und auch auf den Dächern von Industrieanlagen. Bei der Windenergie gibt es jedenfalls noch viel Luft nach oben.

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Ohne radikalen Paradigmenwechsel schaufeln wir unser eigenes Grab

Links:

GZ-Riesbach Werkschau 29.9.bis 14.11.22)

Konzert und Foto-Ausstellung im GZ Heuried (12.1 bis 8.2.2023)

Manuskript / E-Book Version

Autor & Fotografenportrait

Bildershop / Shutterstock-Portfolio

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Die Jugendunruhen und Politskandale in den 80er Jahre

Auszug aus dem Buch von Gerd M. Müller. Das ganze Manuskript ist als E-Book Version verfügbar und die Leseproben finden Sie hier.

Der «Oa Hera» HIV-Waisenkinder Chor bei Maltahöhe in Namibia, wo fast ein Drittel aller Kids Waisen sind

Vorwort zum Buch

Das Buch des Zürcher Foto-Journalisten Gerd Michael Müller nimmt Sie ab den wilden 80er Jahren mit auf eine spannende Zeitreise durch 30 Länder und 40 Jahre Zeitgeschichte mit Fokus auf politische Skandale und ökologische Vorgänge in Krisenregionen rund um den Globus. Er beleuchtet das Schicksal indigener Völker, zeigt die Zerstörung ihres Lebensraumes auf, rückt ökologische Aspekte und menschenliche Schicksale in den Vordergrund, analysiert scharfsichtig und gut informiert die politischen Transformationsprozesse, prangert den masslosen Konsum und die gnadenlose Ausbeutung der Ressourcen an, zeigt die fatalen Auswirkungen wirtschaftlicher Ausbeutung, gesellschaftlicher Fahrlässigkeit und politische Ignoranz auf und skizziert Ansätze zur Bewältigung des Klimawandels. Pointiert, hintergründig und erhellend erzählt Müller anhand seiner persönlichen Erlebnissen aus seiner investigativen Reise und Reportagetätigkeit für nahmhafte Medien rund 30 Länder. Ein Mix aus spannenden Polit-Thrillern, tieferen Einsichten und tollen Bekanntschaften und Begegnungen mit berühmten Persönlichkeiten. Nun zum 1. Buchkapitel:

Die Jugendunruhen und Politskandale in den 80er Jahre

Die Reise rund um den Globus zu verschiedenen Konfliktherden und kulturellen Highlights beginnt in meiner Heimatstadt Zürich. Mit 18 Jahren bereits berufstätig, rollte ein Tsunami auf das konservative Bürgertum und die politische Klasse zu. 1980 war das Jahr, das die biedere Gesellschaft in der Schweiz aufrütteln und im Laufe der 80er-Jahre umpflügen sollte. Im Mai dieses Jahres begannen die «Opernhauskrawalle» als Auftakt zu den nach-folgenden «Zürcher Jugendunruhen». Auslöser dafür war die latente Unzufriedenheit der Jugend mit den für sie zur Verfügung stehenden Einrichtungen und Freiräumen. Das manifestierte sich am augenfälligsten Beispiel der bevorstehenden Abstimmung über einen städtischen Subventionsbeitrag von 60 Mio. Franken an das Opernhaus aber kaum 10‘000 Franken für die «Rote Fabrik», damals das einzige Jugendkulturzentrum der Stadt Zürich. Zu jener Zeit gab es noch die Sperrstunde für alle um Mitternacht, eine halbe Stunde später mussten alle brav zu Hause sein. Der Freizeitspass und kulturelle Angebote hielten sich in engen, konservativen Grenzen. Freiräume für pubertierende Jugendliche gab es keine, nur zwei Freizeitzentren, die hautpsächlich auf Sport fokussiert waren.

Drei kurze Sätze waren in meiner Jugend prägend: „Das kannst du nicht!“ „Das darfst du nicht Die Reise rund um den Globus zu verschiedenen Konfliktherden und kulturellen Highlights beginnt in meiner Heimatstadt Zürich. Mit 18 Jahren bereits berufstätig, rollte ein Tsunami auf das konservative Bürgertum und die politische Klasse zu. 1980 war das Jahr, das die biedere Gesellschaft in der Schweiz aufrütteln und im Laufe der 80er-Jahre umpflügen sollte. Im Mai dieses Jahres begannen die «Opernhauskrawalle» als Auftakt zu den nach-folgenden «Zürcher Jugendunruhen». Auslöser dafür war die latente Unzufriedenheit der Jugend mit den für sie zur Verfügung stehenden Einrichtungen und Freiräumen. Das manifestierte sich am augenfälligsten Beispiel der bevorstehenden Abstimmung über einen städtischen Subventionsbeitrag von 60 Mio. Franken an das Opernhaus aber kaum 10‘000 Franken für die «Rote Fabrik», damals das einzige Jugendkulturzentrum der Stadt Zürich. Zu jener Zeit gab es noch die Sperrstunde für alle um Mitternacht, eine halbe Stunde später mussten alle brav zu Hause sein. Der Freizeitspass und kulturelle Angebote hielten sich in engen, konservativen Grenzen. Freiräume für pubertierende Jugendliche gab es keine, nur zwei Freizeitzentren, die hautpsächlich auf Sport fokussiert waren.!“ Und: „Das geht nicht!“. Das war Motivation pur für eine Revolution nach dem Motto: „Klar geht das!“ Warst du einen Zacken neben der Spur, das heisst abseits der biederen bürger-lichen Norm von Moral und Ordnung, wurdest du gleich eines Aussätzigen behandelt. Radio und TV waren tote Hose damals. In der Schweiz und in ganz Europa war es in den 70er grau Jahren und trist in jeder Hinsicht. Die Bevölkerung verharrte in ihrem biederen, konser-vativen Korsett. Ein Nachtleben, Internet oder Streaming gab es nicht. Gute Musik oder Filme waren rar bis Videotheken aufkamen und der «Walkmen» die Musikwelt veränderte. Aber Handy, Labtop, PC, Social Media und Co. gab es nicht. Kein Wunder, dass es in der jugend-lichen Szene schon länger brodelte. Und plötzlich entlud sich das Pulverfass, das die Gesellschaft nicht nur in der Schweiz sondern in ganz Europa erschütterte. Nach den 68ern kam die nächste anarchistische Jugendrevolte.

Diese Tristesse war auch eine Folge der Ölkrise, des «Kalten Krieges», der Mauer und der Bedrohung durch das kommuniste Regime, des Vietnamkrieges, der immer brutaler und grotesker wurde. Erst die flächendeckenden Napalm-Bombardements auf die vietnamesische Zivilbevölkerung mit den grauenhaften Bilder von brennenden Menschen und Kindern, dann die «Agent Orange» Entlaubungsaktionen und all den verstümmelten Toten sowie unmenschliche Gefangenenlager. „So grauenhaft und sinnlos“.

Da schrien Herz, Seele und Verstand nach Gerechtigkeit, wenn nicht gar nach Vergeltung! Unerklärlich an diesem Vernichtungskrieg war, dass er jahrzehntelang nicht vom US-Kongress abgesegnet, sondern allein von der «CIA» finanziert wurde und die hat die Kriegskosten dadurch bezahlt, indem US-Truppen im Goldenen Dreieck das Opium tonnenweise in die leeren Bombenflugzeuge verfrachteten und dann nach Mexico brachten, wo das Opium zu Heroin verarbeitet wurde. So hat sich Amerika die Heroinflut vor die eigene Haustüre geschafft und den Mexikanern ihre Drogenlabore und -kartelle beschert. Bei dieser kafkaesken Operation ist der «CIA» definitv das «I» also die «Intelligenz» abhanden gekommen oder die «CIA» treffenderweise als «Criminal Intelligence Agency» bezeichnen. Nebst dem «Kalten Krieg» kam noch die atomare Bedrohung im «Kalten Krieg» hinzu und nicht zuletzt auch die Gefahr vor den Atommeilern selbst.

Auch die Schweiz wollte damals eine Atommacht werden und im Zuge dieser irrwitzigen Absicht, kam es in der Schweiz im Januar 1969 zu einem Reaktorunfall in Lucens im Kanton Waadt. 1986 kam es zu dem Reaktorunfall in Tschernobyl, der bis heute das Gemüse im Tessin und anderswo in Europa belastet.

Der Seveso Gift-Skandal und die Bodyguards meiner Freundin

Bei Icmesa im italienischen Meda wurde  hergestellt. Am Samstag, 10. Juli 1982 kam es wegen fehlender Umschichtung des Kesselinhalts zu einem Wärmestau. Das Wartungs- und Reinigungspersonal bemerkte von der sich anbahnenden Katastrophe nichts. In den folgenden Tagen welkten und verdorrten die Blätter von Pflanzen in der Umgebung, 3300 Tierkadaver wurden aufgefunden. Am Mitt-woch schlossen die Behörden das Schwimmbad von Seveso und den Anwohnern wurde wurde empfohlen, alles Obst und Gemüse in ihren Gärten zu vernichten. Am Donnerstag wurden vierzehn Kinder mit Chlorakne ins Krankenhaus eingeliefert. Insgesamt erkrankten 200 Menschen an schwerer Chlorakne. Am Samstag in der Woche nach dem Unfall begannen die Icmesa-Arbeiter einen wilden Streik, der öffentliche Druck wuchs. Die Behörden reagierten spät und schlossen die Fabrik erst am 17. Juli. Ob-wohl die Werksleitung schon am ersten Tag nach dem Unfall wusste, dass TCDD freigesetzt worden war, gab sie es erst acht Tage später offiziell bekannt. Das Mutterunternehmen Roche wurde intern am 12. Juli von dem Unfall und der freigesetzten Substanz unterrichtet, ging aber ebenfalls nicht an die Öffent-lichkeit.

Am 10. September 1982 wurden die Fässer mit dem Reaktorinhalt mit Lastkraftwagen abtransportiert. Die Lkw fuhren in Richtung Frankreich; ab St. Quentin verlor sich ihre Spur. Als die französische Presse dies erfuhr, kam es zum Skandal. Am 19. Mai 1983 wurden die Fässer in einem ehemaligen Schlachthof im nordfranzösischen Dorf Anguilcourt-le-Sart gefunden und in die französische Kaserne in Sissonne gebracht. Die Schweizer Regierung erteilte Roche die Erlaubnis, die Fässer in Basel zwischenzulagern, wo sie am 4. Juni eintrafen. Im Oktober 1993 behauptete der deutsche Fernsehjournalist und Physiker Ekkehard Sieker, dass der Reaktorinhalt nicht verbrannt, sondern in der Deponie Schönberg in Mecklenburg-Vorpommern endgelagert worden sei. Das Geheimnis von Seveso sei, dass bei der Icmesa Dioxin an Wochenenden heimlich für militärische Zwecke produziert worden seien. Für das im Vietnamkrieg einge-setzte Entlaubungsmittel Agent Orange, ist Trichlorphenol ein Grundstoff und Icmesa war zum Zeitpunkt des Unglücks weltweit die einzige Fabrik, die noch Trichlorphenol herstellte. Erst im April 1984 waren alle Dekontaminationsarbeiten in Seveso abgeschlossen.

Ich erlebte den Dioxin-Giftskandal hautnah, denn ich hatte zu diesem Zeitpunkt eine Liason mit der Tochter des VR-Präsidenten von Hoffmann La Roche, zu der auch die Icmesa gehörte. Noch bevor Einzelheiten in der Oeffen-tlichkeit bekannt wurden, hatte wir Body-Guards um uns herum, wo immer wir hin gingen bzw. gehen wollten. Das war sehr unangenehm und zerstörte die Beziehung zu ihr und ihrer Familie.

Die Opernhauskrawalle

Doch zurück nach Zürich zur hiesigen explosiven Lage im Vorfeld der Abstimmung für den Opernhauskredit. Am jährlich stattfindenden «Allmendfest» über Pfingsten mit den ersten Open Air Konzerten, wurden Flyer für eine Demo verteilt und Jugendzentren gefordert. An diesem warmen und wunder-schönen Pfingst-Wochenende wurde mir die Bedeutung der Hippie-Bewegung vor Augen geführt, so nach dem Motto: «Peace, Love, Happi-ness & Freedom». Natürlich kifften fast alle auf dem Gelände. Einige hatten auch einen LSD-Trip intus und die Stimmung war absolut grandios. Die Musik war rockig, punkig und auf Rebellion getrimmt. Schliesslich brodelte es schon seit den 68ern in der Subkultur unter den Jugendlichen und so kam dieser Power-Sound gerade zur richtigen Zeit.

Dann kam der Aushebungstermin für die Rekrutenschule beim Militär, auf die ich gar nicht erpicht war, denn im Zuge des Vietnamkriegs und des Eisernen Vorhangs, der Europa teilte, war mir nicht danach zu Mute, Teil einer Kriegsmaschine zu werden. Ganz im Gegenteil: Ich war pazifistisch eingestellt und habe auch für die Armee-Abschaffungsinitiative gestimmt, womit ich also ein veritabler Staatsfeind in den Augen von Politik und Militär war. Nichts desto trotz, setzte ich alles daran, nicht eingezogen zu werden. Und der Zufall half mir dabei. Denn kurz vor dem Aushebungstermin fand das Allmendfest statt, einer der ersten Hippi-Events in Zürich. Es war ein sehr heisses Pfingswochenende, sodass ich mit nacktem Oberkörper auf dem Festivalgelände rum lief und einen alten Schulkollegen traf, der mit Siebdruck grosse Cannabisblätter auf die T-Shirts druckte.

Da ich keines anhatte, druckte er das Hanfblatt direkt auf meinen Rücken und da ich schnell bräunte war drei Tage später beim Abwaschen der Farbe, das Cannabisblatt viel heller, als der Rest der Rückenhautoberfläche. Das führte dazu, dass ich bei der Musterung in der Reihe stehend auffiehl und sich Gelächter verbreitete, worauf ich sofort zum Aushebungsoffizier überstellt wurde. Als der dann im Fragebogen auch noch las, dass ich Marihuanna täglich konsumiere und auch noch ein paar andere Substanzen aufführte, wurde ich zwei Jahre zurückgestellt und beim zweiten Aushebungstermin dann in Folge unveränderter Situation vom Militärdienst befreit und dem Zivilschutz zugeteilt. Das war einer der glücklichsten und befreiendsten Momente der damaligen Zeit. Auch wenn damit eine Pilotenkarriere ausgeschlossen wurde.

Zufällig fuhr ich am Samstag-Nachmittag dem 30. Mai 1980 mit dem Tram beim Zürcher Opernhaus vorbei, exakt in dem Moment, als Hundertschaften von Polizisten aus dem von ca. 250 Demonstranten blockierten Opernhaus-Eingang herausquollen und auf die am Boden liegenden Personen (die sogenannten «Kulturleichen») einschlugen. Sie mal-trätierten Frauen und Männer gleichermassen. Die nackte Staatsgewalt und brutalen Szenen verschlugen mir und anderen Passanten den Atem und liessen die Wut in meinem Bauch explodieren. Sogleich stieg ich aus dem Tram, da brannten schon die ersten Container und die Scharmützel mit der Polizei begannen. Als die Polizisten sogleich mit aller Härte vorgingen und mit Tränengas und Gummigeschossen um sich schossen, als auch Wasser-werfer einsetzten, eskalierte die Situation innert wenigen Stunden, da sich an diesem frühen Samstagabend viele Jugendliche infolge des Bob Marley Konzert im Hallenstadion auf dem Heimweg befanden und dann in die Innenstadt strömten, worauf viele spontan an den Protesten teil nahmen, die sich schon nach kurzer Zeit zu veritablen Strassenschlachten ausgeweiteten. Von da an hatte die Polizei für drei, vier Tage nichts mehr unter Kontrolle und die Strassenkämpfe entluden sich mit voller Wucht.

Zufällig fuhr ich am Samstag-Nachmittag dem 30. Mai 1980 mit dem Tram beim Zürcher Opernhaus vorbei, exakt in dem Moment, als Hundertschaften von Polizisten aus dem von ca. 250 Demonstranten blockierten Opernhaus-Eingang herausquollen und auf die am Boden liegenden Personen (die sogenannten «Kulturleichen») einschlugen. Sie mal-trätierten Frauen und Männer gleichermassen. Die nackte Staatsgewalt und brutalen Szenen verschlugen mir und anderen Passanten den Atem und liessen die Wut in meinem Bauch explodieren. Sogleich stieg ich aus dem Tram, da brannten schon die ersten Container und die Scharmützel mit der Polizei begannen. Als die Polizisten sogleich mit aller Härte vorgingen und mit Tränengas und Gummigeschossen um sich schossen, als auch Wasser-werfer einsetzten, eskalierte die Situation innert wenigen Stunden, da sich an diesem frühen Samstagabend viele Jugendliche infolge des Bob Marley Konzert im Hallenstadion auf dem Heimweg befanden und dann in die Innenstadt strömten, worauf viele spontan an den Protesten teil nahmen, die sich schon nach kurzer Zeit zu veritablen Strassenschlachten ausgeweiteten.

Von da an hatte die Polizei für drei, vier Tage nichts mehr unter Kontrolle und die Strassenkämpfe entluden sich mit voller Wucht. Die Stadtluft im Niederdorf war geschwängert mit beissenden Tränengasrauchschwaden, dichter, als London im November-Nebel. Das Ausmass der Zerstörung war ebenso unfassbar, wie die Ohnmacht der Sicherheitskräfte, als sich der jahrelang aufgestaute Frust der Jugendlichen und Alt-68ern in blanke Wut verwandelte (angestachelt durch die Gewalt der Ordnungskräfte beim friedlichen Opernhaus-Protest), mit dem die Demonstranten den Opernhausbesucher die einseitige Subventionspolitik aufzeigen wollten. Der ersten Krawallnacht folgten einige weitere Strassen-Schlachten im Lauf dieses Jahres, in der sich die «Bewegig» der Autono-men jeweils Mittwoch’s in den Volksversammlungen (VV’s) im Volkshaus oder vereinzelt auch auf dem Platzspitz formierte. Fast jeden Samstag waren Demonstrationen angesagt. Regelmässig verbarrikadierten die Geschäfte im Niederdorf um 14.00 Uhr ihre Schaufenster mit Brettern, weil die Proteste weiterhin an Fahrt aufnahmen und sich bis hin zu Grossdemonstrationen mit fast 20‘000 Personen formierten. Die Forderung der Jungend war schlicht und einfach: „Ein Autonomes Jugendzentrum“, ein «AJZ» muss her! Und zwar „subito!“

Am 15. Juli 1980 spielte sich in der Sendung «CH-Magazin» einer der grössten Skandale in der Geschichte des Schweizer Fernsehens ab und wurde zum Gesprächsthema Nr. 1 des Landes. Die Zürcher Jugendunruhen, die mit solcher Heftigkeit über das biedere Land hereinge-brochen waren, schlugen Wogen bis zum Hudson River und wurden auch von der «New York Times» aufgegriffen. Die beiden vom Fernsehen eingeladenen Vertreter/innen der Jugendbewegung, Herr und Frau Müller, liessen den beiden Stadtvertreter/innen, im Gespräch mit Stadträtin Emillie Lieberherr und dem Polizeikommandanten mit ihrer Polit-Persiflage die Hosen runter. Die Protagonisten der Jugendbewegung, kehrten den Spiess nämlich um und präsentierten sich als stock konservatives Paar, dass die Politik geradezu unverschämt dazu aufforderte, mit aller Härte gegen die «Krawallanten» vorzugehen, denn zur Option stünden viel grössere und härtere Geschosse z.B. aus Nord-Irland. Auch der Einsatz von Napalm müsse diskutiert werden, sagten sie. Ansonsten wäre es auch mit einem «Ticket nach Moskau“ ohne Rückfahrkarte getan. Zuerst war auch ich verblüfft, konsterniert und traute meinen Ohren nicht, verstand dann aber rasch die Pointe des kafkaesken Auftritts, der schweizweit für Entrüstung und Schlagzeilen sorgte.

Die überschäumende Kreativität der «Bewegig» und ihrer Aktivisten und Aktivistinnen sollte in einem weiteren Medien-Coup gipfeln. Als der Tagesschausprecher Leon Huber am 3. Mai 1981 die Nachrichten verlass, hielten ihm plötzlich zwei maskierte Männer das Schild «Freedom für Giorgio Bellini» (ein anarchistischer Tessiner Buchhändler, der mit einer Gruppe militanter Autonomer kleine Sprengstoffanschläge auf AKWs verübte und einen Strommast in die Luft sprengte, weil sie Atomkraftwerk-Gegner waren) vor die Brust und in die Kamera und verschwanden unerkannt. „Wir haben uns köstlich amüsiert über diese unverfrorene und medial spektakuläre Aktion“. Und so kam es dazu, dass fünf als PolizistInnen verkleidete Personen (zwei Frauen und drei Männer), betraten das Fernsehstudio unter dem Vorwand einer Drogenrazzia, was damals offenbar beim Schweizer Fern-sehen kein Stirnrunzeln oder einen Verdacht hervor rief. So drangen zwei Personen in den Regieraum ein und sorgten dort für Ablenkung und ein wenig Chaos. Zeitgleich betraten zwei weitere Personen in die Sprecherkabine und hielten dem Nachrichtensprecher das Schild frech vor die Nase in die Kamera der Hauptausgabe. Doch es kommt noch besser: Als die beiden Chaoten aus dem Regieraum von SRF-Mitarbeitern angehalten und der Polizei übergeben werden sollten, holten die KollegInnen von der Sprecherkabine die beiden ab und sagten, sie nähmen sie gleich mit und so kamen alle fünf unerkannt davon.

Doch es kommt noch besser: Als die beiden Chaoten aus dem Regieraum angehalten und der Polizei übergeben werden sollten, holten die KollegInnen von der Sprecherkabine die beiden ab und sagten, sie nähmen sie gleich mit. So kamen alle fünf unerkannt davon. Zurück zum Tessiner Giorgio Bellini, der in Zürich einen revolutionären Buchladen an der Engelstrasse betrieb. Als das Schweizer Stimmvolk am 18. Februar 1979 die «Atomschutzinitative» mit einem knappen Anteil von 51,2 Prozent ablehnte machte sich eine kleine Gruppe von militanten AKW-Gegnern auf den Weg ins Fricktal. Die Gruppe «Do it yourself» hatte acht Kilo Sprengstoff im VW-Bus und sprengte damit den Informations-Pavillion beim geplanten KKW Kaiseraugst in die Luft. Personen kamen keine zu Schaden – da legte die Gruppe grössten Wert drauf, doch über den materiellen Schaden hinaus, entzündeten die AktivistInnen eine harsche politische Debatte, denn Sprengstoffanschläge hatten in der Schweiz bis anhin zum Glück Seltenheitswert. Nach dem Sprengstoffanschlag in Kaiseraugst folgten weitere Anschläge auf die AKWs Leibstadt und Gösgen.

Auf die Frage, wie die Gruppe an den Sprengstoff heran kam, sagte Bellini, dass dieser in der Landwirt-schaft und auf dem Bau verfügbar war und zu seiner Zeit sowas wie das Spielzeug für „die dem Kindesalter entwachsenen war“. In der Tat kann ich das bestätigen und hinzu fügen, dass wir schon als Kinder auch mit Armee-Pistolen und anderen Waffen gespielt haben und bereits als 14 jährige auf grösseren Motorrädern ohne Helm mit riskanten Jumps die gut zehn Meter hohe Steilwand in der Kiesgrube hochbretternd unsere Akrobatenküste übten. Das was damals alles nichts aussergewöhnliches und natürlich auch mit gewissen Risiken verbunden. Doch welch eine grossartige Freiheit unter vielen weiteren. Kein Vergleich zur heutigen Schisskultur und Risikoarmut.

Doch zurück zur Gruppe «Do it yourself». Die AktivistInnen gingen sehr professionell vor und lernten vom Klassenfeind und seinen Institutionen. So wurde das berühmte Guerillia-Handbuch eines Schweizer Geheimdienst-Offiziers «Der totale Widerstand – Kriegsanleitung für jedermann» zur Hilfe genommen und bei der Spurentilgung half die Fachzeitschrift «Kriminalistik» den militanten AKW-Gegnern weiter. Dann gab es auch noch den zum Bündner «Öko-Terroristen» abgestempelten Marco Camenisch, der 1979 ebenfalls zwei Spreng-stoffanschläge auf Strommasten verübte und zu zehn Jahren Zuchthaus verbannt wurde. Die beiden waren aber nicht die einzigen radikalen AKW-Gegner. Einer ging noch weiter, Chaim Nissim, der später für die Grünen im Genfer Kantonsparlament sass, griff 1982 mit einem Raketenwerfer sowjetischer Bauart, Typ RPG-7 den Reaktor Creys-Malville im französischen Rhônetal an, ohne ihn allerdings in die Luft jagen zu wollen.

Amore et anarchia: Die 80er Jahre waren der Zenit des letzten Jahrtausend

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Magische Mekong-Mäander rund um die 4000 Inseln

Auszug aus dem Buch von Gerd M. Müller. Das ganze Manuskript ist als E-Book Version verfügbar und die Leseproben finden Sie hier.

Der «Oa Hera» HIV-Waisenkinder Chor bei Maltahöhe in Namibia, wo fast ein Drittel aller Kids Waisen sind

Vorwort

Das Buch des Zürcher Foto-Journalisten Gerd Michael Müller nimmt Sie ab den wilden 80er Jahren mit auf eine spannende Zeitreise durch 30 Länder und 40 Jahre Zeitgeschichte mit Fokus auf politische Skandale und ökologische Vorgänge in Krisenregionen rund um den Globus. Er beleuchtet das Schicksal indigener Völker, zeigt die Zerstörung ihres Lebensraumes auf, rückt ökologische Aspekte und menschenliche Schicksale in den Vordergrund, analysiert scharfsichtig und gut informiert die politischen Transforma-tionsprozesse. Müller prangert den masslosen Konsum und die gnadenlose Ausbeutung der Ressourcen an, zeigt die fatalen Auswirkungen wirtschaftlicher Ausbeutung, gesellschaftlicher Fahrlässigkeit und politische Ignoranz auf und skizziert Ansätze zur Bewältigung des Klimawandels. Pointiert, hintergründig und erhellend erzählt Müller anhand seiner persönlichen Erlebnissen aus seiner investigativen Reise und Reportagetätigkeit für nahmhafte Medien rund 30 Länder.

Laos: The Stupa in Vientiane. © GMC

Magische Mekong-Mäander: Flussfahrten im Norden und Süden

Erst schiesst er durchs facettenreiche Dschungel-Antlitz entlang bizarr zerklüftete Flussbettlandschaften, dann schlängelt er sich nochmals 1000 Kilometer durchs Reisanbau-Flachland und fächert sich schliesslich zu einem Delta mit 4000 tropischen Inseln auf. Der Mekong ist der Lebensnerv Indochinas und die pulsierende Lebensader für sieben Millionen Laoten. Was liegt näher, als die Reize Laos auf einem Hotelbootzu erkunden und sich beschaulich dem Treiben des laotischen Lebens widmend, flussabwärts treiben zu lassen.

Eine Fahrt auf dem Mekong-Fluss nahe dem Goldenden Dreieck ist auch heute noch ein Abenteuer und ebenso aufregend, wie zu Zeiten der ersten westlichen Entdecker, der Franzosen Lagrée und Garnier, die für ihre Expedition (1866-68) zwei Jahre brauchten. Sie kämpften sich noch in kleinen Auslegebooten mühselig gegen die wilden Stromschnellen den Fluss hoch. Zahlreiche zackige Felsen, riesige Sandbänke, felsige Kluften, enge Biegungen und der stark variierende Wasserstand, der innert Stunden um mehrere Meter ansteigen kann, erfordern von den Schiffskapitänen äusserste Vorsicht und genaue Kenntnisse aller gefährlichen Stellen. Nachts ist der Mekong-Oberlauf für die Schiffahrt gesperrt. Zu gefährlich wäre es in der Dunkelheit auf dem Fluss. Das sind die Tücken in der Trockenzeit.

The Mekong river in North Laos is quiet dangerous at low water level in the dry season. © GMC

In der Regenzeit dagegen schwillt der Strom rasch um bis zu 20 Metern an. Dann schiessen oft tonnenschwere Baumstämme mit rasender Geschwindigkeit flussabwärts. Auch auf unserer kurzen Reise hat sich der Wasserstand innert zwei Tagen um drei Meter erhöht. Infolge heftiger Regenfälle in China und dem Öffnen eines Staudammes. Kein Wunder gehört der Oberlauf des Mekongs zu den schönsten aber auch zu den wildesten Flussoberläufen der Welt. Unser Kapitän schafft es in der Tat und manchmal einem kleinen Wunder gleich, auch auf dem Rückweg flussabwärts im Sog der Stromschnellen, um alle gefährlichen Klippen herumzukurven und sich geschickt durch die engen Passagen mit den zerklüfteten Felsen hindurchzuschlängeln. In der Trockenzeit ragen die bizarren Felsnadeln bis über das Schiffsdeck hinaus, in der Regenzeit verschwinden sie unter die Wasseroberfläche.

North-Laos: „Phou Si“ mountain view to the ancient royal city Luang Prabang. © GMC

Die Flussreise beginnt im kulturellen Herzen Laos, im historischen Zentrum der Stadt Luang Prabang, die im Schutz der Spornlage zwischen Mekong und seinem Nebenfluss Nam Khan im Norden Laos auf rund 300 Meter Höhe situiert und ein Handelszentrum für Reis, Kautschuk und Teakholz und handwerkliche Produkte aus Holz, Textilien und Papier ist. Seit hier ein internationaler Flughafen gebaut wurde, ist dies auch Ausgangsort für Touristen die von Vietnam oder Bankok herkommen. Die Zahl der Touristen in der alten Königsstadt von Laos ist bisher noch übersichtlich. Zwischen die vielen Rucksacktouristen mischen sich immer mehr Jetsetter, die die stille Schönheit Luang Prabangs sehen möchten, bevor es laut und voll wird wie in Kambodscha oder Vietnam.

Laos: One out of 32 beautifull decorated old buddhist monastries in Luang Prabang City. © GMC

1995 wurde Luang Prabang zum Unesco Weltkulturerbe erklärt. 32 buddhistische Klöster sowie die gesamte französische Kolonialarchitektur in der Stadt wurden unter Denkmalschutz gestellt und werden seitdem konstant restauriert. Eine restriktive Stadtplanung soll zudem Verstöße gegen den kunsthistorisch einzigartigen Charakter des Stadtzentrums verhindern. Die Stadtgeschichte Luang Prabangs ist untrennbar mit der Entstehungsgeschichte von Laos verknüpft.

Der politische Niedergang des Königreichs Sukhothai in Nord-Thailand 1345 und die Verlagerung des politischen Zentrums in Siam nach Ayyuuhaya im Jahr 1351 beschleunigte auch die Notwendigkeit eines politischen Einigungsprozesses östlich des Mekong. 1365 wird allgemein als Gründungsjahr von Lang Chang (dem Land der Millionen Elefanten) unter Fa Ngum genannt. Als Vasall des Khmer-Reiches hatte Fa Ngum die Buddhastatue Phra Bang als Krönungsgabe aus Angkor erhalten. Diese wurde in Luang Prabang, das zwischen 1354 und 1560 Hauptstadt des Königreiches Lan Chang war, als heilige Statue mit herrschaftslegitimatorischer Funktion verehrt. Um 1356 wurde Luang Prabang ein Wallfahrtsort für die Buddha-Statue Phra Bang. Unter König Setthatirat wurden in Luang Prabang im 16. Jahrhundert viele buddhistische Klöster errichtet.

Monks repairing Wat Xieng Thong Temple in Danang. © GMC

Im Zuge der buddhistischen Missionierung entstand unter anderem der Wat Pasman an der Stelle des heutigen Wat That Luang als ältestes sakrales Gebäude der Stadt. Einen erheblichen Machtverlust bedeutete für Luang Prabang die Verlegung der Hauptstadt nach Vientiane, die König Setthatirath 1560 aus Angst vor Angriffen aus Burma veranlasst hatte. Dennoch blieb Luang Prabang kultureller Mittelpunkt des Landes. Über drei Jahrhunderte wurde sie fortan Spielball im Kampf zwischen Thai und Birmanen um die politische Vormachtstellung zwischen Irrawaddy und Mekong, in dessen Folge die Stadt wiederholt zerstört wurde. 1700 zerfiel Laos schließlich in drei Teile: Luang Prabang, Vientiane und Champasak.

Als Laos um 1886 ins Fadenkreuz der machtpolitischen Rivalität zwischen Frankreich und England geriet, hoffte Frankreich, den Mekong flussaufwärts fahrend, nach Südchina gelangen zu können, doch erwies sich der Mekong als nicht durchgängig schiffbar. Dennoch waren die Franzosen an einer politischen Kontrolle von Laos als strategischer Absicherung ihrer Kolonie Vietnam interessiert. Geschickt taktierend nutzte Frankreich die Bedrängnis, in der sich die Laoten angesichts der Überfälle durch chinesische Banden 1887 befanden und erklärte die Region von Luang Prabang kurzerhand zum Protektorat ihrer Kolonie Union Indochinose (1893–1954). Von wirtschaftlicher Bedeutung war Laos für Frankreich, ganz im Gegensatz zu Vietnam jedoch nicht. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts wurde Laos und damit auch Luang Prabang stark von kulturellen und architektonischen Einflüssen der Kolonialmacht Frankreich geprägt. Noch vor der verheerenden Niederlage Frankreichs bei Điện Biên Phủ 1954 wurde Laos 1953 die politische Unabhängigkeit gewährt.

Mekong River Village Ban Muang Keo in North-Laos. © GMC

Trotz der Internationalen Laos-Konferenz in Genf 1962, auf der dem Land die Neutralität zugestanden wurde, erfolgte im Indochina-Krieg der militärische Nachschub für den Vietcong in Südvietnam auf dem sogenannten Ho-Chi-Minh-Pfad über laotisches Territorium. Schwere Bombardierungen seitens der US-Luftwaffe waren die Folge. Die CIA fügte Laos im Vietnamkrieg (1965 – 1975) Tod und Verwüstung in unglaublichen Ausmass zufügten; die Amerikaner bombardierten Laos mit über zwei Millionen Tonnen (Splitter- und Napalbomben sowie dem Nerven-gift „Agent Orange“). Auf Laos fielen mehr Bomben, als im 2. Weltkrieg auf Deutschland und Japan zusammen. Den Ho-Chi-Mingh-Pfad haben die GI’s trotzdem nicht gefunden. Die friedliebenden Laoten blicken auf eine 200-jährige Konfliktgeschichte mit fremdern Agressoren zurück. Jedes Jahr werden hunderte von Personen von Minen schwer verletzt. Noch immer suchen Entschärfungskommandos, zumeist Frauen, den Boden nach Bomben ab. Die Stadt Luang Prabang blieb von den Kampfhandlungen weitgehend verschont, obwohl sich Einheiten der kommu-nistischen Pathet Lao-Organisation nördlich der Stadt im Gebiet der Pak-Ou Höhlen verschanzt hatten. 1975 eroberten kommunistische Einheiten die Stadt.

The holy Pak Ou Caves at Mekong River near the ancient royal city Luang Brabang.© GMC

In Luang Brabang leben über 2500 Mönche, die jeden Morgen kurz nach Sonnenaufgang in ihren orangenen Gewändern durch die Strassen Luang Prabangs pilgern und sich von den Gläubigen und Touristen milde Gaben in die Töpfe legen lassen. Zumeist ältere Frauen und Touristen, lassen den Zug der Mönche kniend an sich vor-beigehen und spenden jedem eine handvoll Reis, ein paar Früchte, Bonbons, ein paar Geldnoten oder andere Dinge zum Leben. Welche kulturellen Stätten und religiösen Schätze gibt es hier zu entdecken? Da ist zunächst der in den Jahren 1904 bis 1909 errichte Königspalast (Ho Kham), jetzt das Nationalmuseum, wo der Thron der Herrscher der Lan Chang-Periode stehen. Dann das Vat Xienthong (auch Wat Xieng Thong) – eine Tempelanlage am Mekong, die 1560 unter König Setthathirath erbaut und 1960–1962 restauriert wurde.

Beautifull art decoration of the buddhist temple Vat Xieng Thong in Luang Prabang, the religious center and ancient royal city of Laos. © GMC

Als einziger Tempel der Stadt überstand er die Plünderung von 1887 unversehrt. Der Baustil mit dem fast bis auf den Boden reichenden Dach ist typisch für das nördliche Laos. Eine Preziose ist auch der Vat Visounarath (auch Wat Visoun oder Wat Visounarath genannt) ist eine an der südöstlichen Seite des Phousi-Berges gelegene Tempel-anlage. König Visounarath gründete 1512 das Kloster, das 1887 durch chinesische Horden zerstört wurde. Der Grossteil der Anlage wurde im 20. Jahrhundert wieder aufgebaut. Der Sim (laotische Bezeichnung für das Haupt-gebäude eines Wat)aus 1898 enthält Fenstersäulen im Khmer-Stil. Im Inneren befindet sich seit 1942 ein Museum mit zahlreichen Buddahstatuen insbesondere in der für Luang Prabang typischen Regenanrufungsgeste (stehend mit parallel zum Körper nach unten zeigenden, überlangen Armen).

Hinzu kommen zwei weitere Tempel: Der That Makmo (die Wassermelonen -Stupa) gestiftet von Phantin Xieng, der Gemahlin von König Visounarath, im Jahr 1504, wurde die Stupa 1932 wieder aufgebaut, wobei die kostbaren Beigaben in den Königspalast überführt wurden. Und die Stupa Vat Sop im Nordosten der Altstadt, die bereits 1480 als Bestattungstempel des Königs Chakkrapat gegründet. Hinter dem Vat Sop befindet sich an der Thanon Vat Sop genannten Strasse ein typisches laotisches Baan Wohnquartier, in dem man einen Eindruck vom Alltag der Einheimischen gewinnen kann. Last but not least:

North-Laos: „Phou Si“ mountain view to the ancient royal city Luang Prabang. © GMC

Der Berg Phousi (130 Meter Höhe, 328 Stufen), der topogra-phische  Akzent und das spirituelle Zentrum gegenüber dem Königspalast mit herrlicher Aussicht auf das Stadtgebiet, den Mekong sowie die bewaldete Berglandschaft in der Umgebung. Danach geht es zum Nachtmarkt am Fusse des Phousi in der Thanon Sisavangvong, der Hauptstrasse der Altstadt, werden täglich zwischen dem Königspalast und der Querstraße Thanon Setthathirat ab 18 Uhr von Hand gefertigte Textilien, Souvenirs und Lebensmittel angeboten. Viele der Händlerinnen gehören dem Volk der Hmong an, die für ihre qualitativ hoch-wertigen Web-, Stickerei- und Näharbeiten bekannt sind.

In Laos gibt es über den Theravada-Buddhismus hinaus auch noch Ahnenkult und Animismus, der unter den vielen ethnischen Minderheiten (Hmong, Khmu, Akha oder Lanten) in den Gebirgsregionen im unzulänglichen Norden an der Grenze zu China und Burma weit verbreitet sind. Die Hmong beispielsweise sind archaischstrukturierte Opium-Clans mit magischen Geisterwelten und mythischen Kräften, die bis heute an ihre Geisterwelt, mit denen sie über ihren Opium- und Canabiskonsum in reger Verbindung stehen, glauben. Die Opiumbauern leben im abge-schiedenen Hochland des Goldenen Dreiecks völlig autark und lehnen jegliche Regierung, als auch moderne Lebensstrukturen bis heute ab.

Luang Brabang: Every early morning over 1000 monks are collecting their food for the day. © GMC

So hausen sie wie vor Hunderten vor Jahren in finsteren Hütten ohne Strom und Heizung in den abgeschiedensten Hochland-Regionen Laos und liefern sich Scharmützel mit den laotischen Regierungssoldaten. Doch diese können die laotische Grenze ebensowenig sichern, wie die vietnamesischen Verbündeten, die sich mit den Chinesen Gefechte liefern. Wobei die Chinesen oft den Kürzeren ziehen und angeblich drei Mal mehr Tote zu beklagen haben. Auch die Thailänder versuchten immer wieder in Laos einzudringen und wurden von den Vietnamesen zurückgeschlagen. Seit die Generäle in Hanoi Bankok klar gemacht haben, dass sie das nächste Mal gleich bis Bankok vorrücken würden, herrscht Ruhe an dieser Front.

Die Hmong verbündeten sich im Vietnamkrieg mit den Amerikanern und lieferten der «CIA» tausende von Tonnen Rohopium jährlich für ihren kostspieligen Krieg. Man munkelt von 150’000 Tonnen Rohopium pro Jahr, die von der «CIA» in leere Munitionskisten verpackt und mit der mit Piloten der «Air America» und privaten Chartern der korsischen Mafia in Laos, die damals im internationalen Drogenhandel kräftig mitmischte, direkt nach Mexico vor die Tür der USA geflogen wurden. Die «CIA» finanzierte so nicht nur ihren schmutzigen Krieg, der gegen sein Ende eine Milliarde Dollar pro Tag kostete, sondern heizten auch den Opium-Handel und Drogenkosum etlicher US-Bürger und Mexikaner gewaltig an. Die Ironie der Geschichte: Der oberste Hmong-General lebte in Washington und genoss den Schutz der US-Regierung, ansonsten wäre er längst in Den Haag gelandet. Der Exodus der Hmongs hat zu über 150‘000 US-Emigranten in San Diego geführt. Ferner leben auch viele Hmong in Französisch Guayana und sind somit Europäer mit Französischem Pass.

Laos: Mekong Cruise between Champasak and Pakse City in the south of the country. © GMC

Nach meinem Aufenthalt in Luang Brabang im Norden vn Laos geht es mit dem Flugzeug von Luang Brabang bis zur Handelsmetropole Pakse im Süden des Landes hinunter, wo der zweite Teil der Flussreise im Mekong Delta beginnt. Hier sieht die Flusslandschaft ganz anders aus. Breite Flussströme, flaches zumeist mit Reisfeldern überwachsenes Land oder Sandinseln und da und dort ausgedehnte Hügelzüge fernab am Horizont. Die Fahrt verläuft sehr gemächlich und ist mehr auf das Bordleben fokussiert. Man sonnt sich an Deck und liest ein Buch oder hört Musik und lässt die Welt einfach an einem vorbei gleiten. Das war dann die weniger spannende aber umso gemächlichere und erholsamere Flussreise. Doch auch hier im Süden gibt es eine grosse Tempelanlage namens Vat Phou. Sie ist allerdings eine von den Khmer erbauteTempelanlage. Nicht ganz so beindruckend wie Ankor Wat in Siam Reap, der Hauptstadt von Kambotscha, die ich ebenfalls besucht habe und beeindruckt war von den kolossalen kulturellen Hochburgen der Khmer.

Khmer temples and world heritage Vat Phou near Pakse in South Laos. © GMC

Doch am Morgen werden wir von Elefanten begrüsst, die ein Bad im Mekong nehmen. Bevor sie entweder zu einer Touristen-Safari aufbrechen und lautlosdurch den dichten Dschungel entlang der eindrücklichen Flusslandschaft pirschen, auf ihrem Rücken begeisterte Backpackers tragend oder aber für Arbeitseinsätze rund ums Dorf gebraucht werden. Sie sind die stärksten Baumeister-Gehilfen und ersetzen den Kran und den Traktor. Die Elefanten schichten unter den Zurufen der Mahuds geschickt die riesigen Holzstämme aufeinander, die sie zuvor in die richtige Positions gebracht hatten. In Laos gibt es auch noch zahlreiche wilde Elefanten in den unzugänglichen Regionen des Nordens. Dort werden bis heute jährlich auch zwischen 40 und 60 neue Tierarten entdeckt. Auch eine neue Hirschart und die grösste Spinne der Welt zählen zu den erstaunlichsten Entdeckungen.

Leider sind auch hier durch die Vernichtung des Lebensraumes von Flora und Fauna eine Vielzahl der Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht. Im Jahr 1996 galten 68 Arten von Säugetieren, Vögeln Reptilien und Fischen als gefährdet. Mittlerweile sind jedoch etwa 14 % des Territoriums geschützt. Der Wald ist vor allem durch die Holzgewinnung, durch Rodung zur Ackerlandgewinnung und durch die Brennstoffgewinnung gefährdet, wobei etwa 8 % des Energiebedarfs des Landes mit Holz gedeckt werden. Der jährliche Waldverlust wird auf etwa 300‘000 Hektaren geschätzt.

Ein weiteres touristisches Highlights ist die malerische Karst- und Flusslandschaft um Vang Vien. Das Boracay Indochinas, wo sich die Backbacker mit Grass und Opium zudröhen, liegt auf halben Weg zu Laos Hauptstadt Vientiane, die wie Luang Brabang als Stadt der tausend Tempel bekannt ist. Hier überragt der heilige Stupa That Luang mit ihrem klotzig vergoldeten Turmaufbau alle anderen religiösen Bauwerke, derweil in der Tiefebene nahe Pakse, dem wirtschaftlichen Zentrum Laos, die filigranen Ruinen der alten Khmer-Tempel bei Vat Phou, die grösste Anlage der Khmer ausserhalb Kambodschas, besichtigt werden können.

Khmer temples and world heritage Vat Phou near Pakse ion South Laos. © GMC

In der Tiefebene des Mekon nahe Pakse, wo die Mekong Islands auf ihre Gäste wartet, liegen die 4000 tropischen Inseln am Unterlauf des Mekong. Auf der Grössten leben 30‘000 Laoten, welche die fruchtbaren Schwemmböden landwirtschftlich intensiv nutzen und auch rege Fischfang betreiben. Der Reisanbau, die Fischerei und die Agrarwirtschaft sind bisher die bedeutendsten Resourcen des Landes gewesen, von denen die Flachland-Laoten recht gut lebten. Auf den kleinsten Mekong-Islanden und Schwemmdünen haben kaum hingegen kaum zwei Reiher oder eine Palme Platz. Der Mekong-Strom hat hier schon eine beachtliche breite erreicht und fächert sich zu einem breiten Delta auf.

Laos: How about a fantastic Mekong cuise trip through the 4000 Mekong Islands in the delta. © GMC

So ist es denn auch kein Wunder, dass der Markt von Pakse, der grösste Warenumschlagsplatz in ganz Indochina ist. Unglaublich, was es hier alles zu sehen und zu verkosten gibt.Gigantisch die Fülle und Berge von Reis, Gemüse, Salaten, Gewürzen, Früchten und Mekong-Fischen. Da hüpfen Frösche zu tausenden in Schüsseln rum, da gibt es grillierte Ratten und Schlangen, kleine Kugelfische und allerlei andere Spezialitäten. Das sollten Sie werte Leserin, lieber Leser lieber gleich Mal mit eigenen Augen sehen. Nach einem Abstecher zu den Kuang Si Wasserfällen geht es zurück in die Hauptstadt vib Laos, Vientianne.

Laos: Captial City Vientianne. © GMC

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Senegal 86: Zwischen den Fronten und in der Welt der Hexen und Heiler

Auszug aus dem Buch von Gerd M. Müller. Das ganze Manuskript ist als E-Book Version verfügbar und die Leseproben finden Sie hier.

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Vorwort

Das Buch des Zürcher Foto-Journalisten Gerd Michael Müller nimmt Sie ab den wilden 80er Jahren mit auf eine spannende Zeitreise durch 30 Länder und 40 Jahre Zeitgeschichte mit Fokus auf politische Skandale und ökologische Vorgänge in Krisenregionen rund um den Globus. Er beleuchtet das Schicksal indigener Völker, zeigt die Zerstörung ihres Lebensraumes auf, rückt ökologische Aspekte und menschenliche Schicksale in den Vordergrund, analysiert scharfsichtig und gut informiert die politischen Transformationsprozesse. Müller prangert den masslosen Konsum und die gnadenlose Ausbeutung der Ressourcen an, zeigt die fatalen Auswirkungen wirtschaftlicher Ausbeutung, gesellschaftlicher Fahrlässigkeit und politische Ignoranz auf und skizziert Ansätze zur Bewältigung des Klimawandels. Pointiert, hintergründig und erhellend erzählt Müller anhand seiner persönlichen Erlebnissen aus seiner investigativen Reise und Reportagetätigkeit für nahmhafte Medien rund 30 Länder.

Zwischen den Fronten und in der Welt der Hexen und Heiler

© GMC/Gerd M. Müller

Ab 1986 arbeitete ich als Resident Manager für Imholz Reisen in drei Ländern für jeweils drei Monate vor Ort. Die erste Station war der Senegal, eine Welt der Geister, Hexen, Heiler und Wahrsager. Alles ist sehr mystisch angehaucht. Es werden Flüche ausgesprochen und Leute verhext und irgendwie fürchtet sich jeder davor. Daher tragen auch alle einen Boubou, einen Glücksbringer, der sie schützen soll. Auch der Kleiderkult ist legendär. Die schönsten, sehr farben-prächtigen Kleider und Kostüme werden in Dakar feilgeboten. Die bunt bemalten Pirogen, die Einbaumboote reihen sich am Strand von Dakar und entlang der Küste im Getümmel der Fischer und Händler auf. Als Transportmittel gibt es Minibusse, die in alle Richtungen fahren und überall anhalten, wo ein Fahrgast ein- oder aussteigen möchte.

Dakar ist eine äusserst pulsierende Metropole. Tag und nachts, denn erst ab den Abendstunden ist die Temperatur angenehm, derweil sie über Mittag bis auf 40 Grad ansteigt. Mich faszinierte vor allem der Silberschmid-Markt. Hier wurden unglaublich schöne Ringe aus Horn, mit ziseliertem Silber und mit Ornamenten reich geschmückt, angefertigt. Spannend waren auch die hier feilgebotenen Textilien und Kleider. Zum ersten Mal im Leben suchte ich mir die Stoffe für meine Lokal-Kolorit-Bekleidung selbst aus, brachte sie zum Schneider und liess mir die Kleider nach Wunsch und auf Mass zuschneidern. Für alle Völker des Senegals ist Musik, kombiniert mit Tanz und Erzählung, die wichtigste kulturelle Ausdrucksform. Ich hatte das Glück bei einem Konzert von Fela Kuti dabei zu sein.

© GMC/Gerd M. Müller

Beim ersten Resident Manager Einsatz im Senegal war Flaute angesagt (sowie in Covid-Zeiten), denn damals war «AIDS» gerade erst auf dem Radar aufgetaucht und noch rätselte die Medizin darüber, woher das Virus kam und wie es übertragen wird. Erst vermutete man noch durch eine Fliege aus Afrika, dann kamen Affenbisse in Frage. Daher war nicht viel los im «Club Aldiana» nahe M’Bour. Hier, rund vier Stunden Autofahrt von Dakar aus in den Süden, entlang der Küste gelegen, gab es einen prächtigen Fischermarkt mit quirligem Treiben und vielen bunt bemalten Pirogen, den typischen Einbaum-Fischerbooten. Im «Club Aldiana», in dem die meisten Gäste logierten, fuhr ich drei Mal pro Woche mit den abreisenden Ferien-gästen zum Flughafen nach Dakar hoch und brachte die ankommenden Gäste in den Club runter. Dies war jedes Mal eine recht abenteuerliche vierstündige Reise, auch weil viele Transfers bei Dunkelheit statt fanden.

Die islamische Republik Senegal erstreckt sich von den Ausläufern der Sahara im Norden, wo das Land an Mauretanien grenzt, bis an den Rand des tropischen Feuchtwaldes im Süden, den Nachbarn Guinea-Bissau, sowie von der kühlen Atlantikküste im Westen in die heisse Sahel-Region an der Grenze zu Mali im Osten. Gut 90 Prozent der Bewohner des Landes bekennen sich zum sunnitischen Islam.Das Land befindet sich also an der Atlantikküste im Übergang von der kargen Vegetation der Sahelzone im Norden zu den fruchtbareren Tropen im Süden und wird genau in Ost-West-Richtung verlaufende Landgrenze von einem 300 Kilometer tiefen Einschnitt durchtrennt, der das Staatsgebiet von Gambia bildet. Wer also von Dakar aus in den Süden des Landes in die Casamance will, muss zwangsläufig durch Gambia hindurch. Diese Grenze zwischen Gambia und Senegal er-schwert die Verbindung der senegalesischen Südwestregion Casamance zum Rest des Landes, wodurch die Region vernachlässigt wurde und es in der Folge zu separatistischen Bewegungen und Konflikten kam

Headerbild Salzsalinen im Lac Terba, dem rosaroten See im Senegal. Salt salinas in Lac Retba, the pink lake in Senegal.
Salzsalinen im Lac Terba, dem rosaroten See im Senegal. Salt salinas in Lac Retba, the pink lake in Senegal.

Der Salzsee Lac Retba unweit Dakars ist wegen seiner rosa Verfärbung aufgrund der Aktivität von Organismen im Wasser berühmt. Er ist bedeutend für die Salzgewinnung und den Tourismus; die UNESCO hat ihn zum Welterbe erklärt. Sehenswert sind auch die Region Saint-Louis, sie erstreckt sich in West-Ost-Richtung über rund 300 Kilometer bei einer durchschnittlichen Breite von 65 Kilometer entlang des Südufers des Senegal-Stroms. Im Westen der Region liegt der Nationalpark Djoudj, der Heimat von tausenden Vogelarten ist.

Das bedeutendste Volk des Senegal sind die Wolof und das ist auch die meistverbreitete Sprache unter den vielen Dialekten. Die Wolof gründeten zwischen dem 15. und dem 19. Jahrhundert mehrere feudalistische Königtümer, deren Spuren bis heute in der Gesellschaft des Landes sichtbar sind. Dann gibt es die Serer, ein katholisches Bauernvolk im Zentrum und Westen des Senegal, der sonst zu 95 Prozent islamisch ist. Die Diola leben im Süden des Landes, in der Casamance und sind vor allem Reisbauern. Die Mandinka, Bambara und Soninke sind Ethnien, die starke, grenzüberschreitende Verbindungen, vor allem nach Mali, haben. Der Senegal ist also ein Vielvölkerstaat.

© GMC/Gerd M. Müller

Durch die «AIDS»-Krise 1987, die den Afrika-Tourismus drastisch reduzierte, hatte ich Zeit für eine kurze Reise in den Süden Senegals in die Casamance. In einem kleinen Kaff an der Küste mietete ich einen Bungalow und lief mit meiner Kamera in der Wildnis nahe der Grenze rum und wurde unvermittelt im Gestrüpp von einer Soldatentruppe des Militärs von Guinea-Bissau angehalten und stundenlang verhört. Da der Kommandant nur portugiesisch sprach, dauerte es eine Weile, bis ich erfuhr, dass es einen Konflikt wegen des Öl-Vorkommens im Grenzgebiet zwischen den beiden Ländern gäbe und ich erinnerte mich an einen TV-Beitrag vor wenigen Tagen, dass sich exakt zu diesem Zeitpunkt die Streitparteien in Genf zu Verhandlungen trafen.

Dies war mein Rettungsanker und Trumpf, als Schweizer in dieser prekären Situation. So versuchte ich dem Kommandanten klar zu machen, dass es äusserst schlecht wäre, wenn sie mich gefangen nähmen und damit die Verhandlungen in Genf gefährdeten. Das verstand er und liess mich dank einer verhältnismässig grosszügigen Geldspende unbeschadet von Dannen ziehen. Erleichtert lief ich in die Casamance, also in den Senegal zurück. Dort angekommen, hatte ich kein Bargeld mehr, um die Miete für die Lodge zu zahlen. Dazu musste ich erst eine Tagesreise entfernt nach Zuiginchor reisen, um den Reisecheck zu wechseln. Also erzählte ich dem Hotelier vom Grenzerlebnis und meiner Spende, bei der die Miete drauf ging und lief dann erschöpft zum Bungalow, um erst einmal schlafen zu gehen.

Der Autor & Fotojournalist auf Wache in seinem Quartier. © GMC/Gerd M. Müller

Doch es dauerte nicht lange, dann fuhren zwei Militärjeeps mit Getöse vor meiner Hütte vor und acht waffen-starrende Soldaten stiegen aus. Diesmal waren es senegalesische Soldaten, aber das beruhigte mich nicht eben. „Sie hätten Befehl, mich zum Militärgouverneur zu eskortieren“, sagten sie zu mir. „Was ist denn jetzt schon wieder los?“, dachte ich und versuchte den Adrenalinschub zu bremsen. Eine halbe Stunde später sass ich vor dem Militärkommandanten, der mich über den Grenzvorfall ausfragte. Er habe vom Vermieter davon Kenntnis erhalten und möchte mehr dazu wissen. „Scheisse“, dachte ich mir, heute ist aber ein anstrengender Tag, geht nun die Kriegs-Diplomatie wieder von vorne los? Jetzt gilt es, möglichst alles runter zu spielen und so wenig wie möglich zu sagen, dachte ich mir. Das übte ich dann gute vier Stunden lang mit dem senegalesischen Kommandanten, worauf wir beide ziemlich fix und fertig war. An einem Tag zwei Militärverhöre bei verfeindeten Staaten, das war schon eine Härteprobe spezieller Güte. Später sah ich dann den senegalesischen Kommandanten wieder und zwar weil ich ihn und die militärische Führingsriege sowie den Tourismusminister und die lokalen Stammesoberhäupter zur Eröffnung eines neuen Touristen-Clubs einlud. Ich hatte den PR- und Foto-Auftrag gefasst, die Eröffnungs-zeremonie des Clubs, den ein Schweizer hier aufgebaut hat, zu fotografieren und zu promoten.

M Bour: Die Dorfgemeinschaft debattiert leidenschaftliich gerne. © GMC/Gerd M. Müller

Am Ende des Einsatzes im Senegal, der von den ersten «AIDS-Kranken und «HIV»-Fällen überschattet wurde, lud ich meine letzten Gäste in M’Bour in ein maurisches Cafe ein, dass auch «Vielle Prune» also einen ganz feinen «Zwetschgenschnaps» servierte – eine absolute Rarität in Afrika. Meine Gäste wussten aber sofort, um welches Getränk es sich dabei handelte. Schmunzelnd erklärte mir der etwas über 50 jährige Mann, dass er VR-Präsident der «Destillerie Willisau» sei und dieses Getränk herstelle und vertreibe. So freuten wir uns noch mehr über die nächsten paar Tropfen und als der Gast erfuhr, dass ich nach Warschau versetzt werde, meinte er sofort: „Oh, da kenn ich einen ganz feinen Menschen und hochrangigen Politiker, da wir den Wodka aus Polen importieren“. Also schrieb er mir den betreffenden Namen auf einen Zettel und gab ihn mir zur Empfehlung und Kontaktaufnahme mit. Dank dieser „Schnaps-Connection“ im Senegal hatte ich, ohne es damals gerade zu ahnen, ein Ass für meine nächste Mission gezogen, wie wir gleich erfahren nach einem kurzen, zeitgemässen Diskurs über den Senegal wie man ihn heute sieht.

M Bour: Die Dorfgemeinschaft versammelt sich um Wichtiges zu besprechen. © GMC/Gerd M. Müller

Der Senegal ist eine sehr junge Nation, mit rund 40 Prozent arbeitslosen Jugendlichen, die im März 2021 einen fünf Tage andauernden gewalttätigen Protest ausgefochten hat, bei dem Gerichte, Polizeistationen, Rathäuser, regie-rungsnahe Medien, die Häuser von Politikern und viele francophone Einrichtungen angegriffen wurden. Derweil die Jugend gegen die Korruption und Unfähigkeit der Regierung(en) auf die Barrikaden stieg, geht fast die Hälfte der Kinder gar nicht zur Schule, in abgelegenen Regionen sogar bis zu 70 Prozent. Bildungspolitisch haben alle Regierungen komplett versagt und mit ihnen die französische Regierung, worin schon mal das Grundproblem liegt. Der Zorn richtet sich auch gegen die Abhängigkeit von Frankreich, welche wirtschaftlich als auch währungs-politisch mit dem CFA eng mit Frankreich verbunden ist. Im Land der „Teranga“, was auf Wolof soviel wie Gast-freundschaft bedeutet, gibt es fast 250 Niederlassungen von französischen Unternehmen. Seit Jahren weigern sich die korrupten Politiker in Dakar, die immer wieder vorgebrachten Forderungen einzugehen, die neo-koloniale Abhängigkeit endlich zu beenden. Das ist auch der Hintergrund der Antiimperialistischen Panafrikanischen Revolution (Frapp) des Aktivisten Guy Marius Sagna.

Auf dem Markt von dakar ist immer viel los. © GMC/Gerd M. Müller

Die wichtigsten Wirtschaftszweige sind der Export von Erdnüssen nach China, die Fischerei- und Landwirtschaft, der Tourismus sowie der Bausektor. China ist zu einem wichtigen Akteur in der Region geworden, doch die sene-galesischen Fischer beklagen sich, dass die chinesischen Trawler auch die Fischbestände vor Senegals Küste leerfischen. Die traditionellen Grundnahrungsmittel der Bevölkerung des Senegal sind Hirse und Sorghum, die vor-wiegend als Brei gegessen werden, sowie Hülsenfrüchte und Kuhmilch. Doch zählt auch der Senegal zu den Ländern die immer mehr unter dem Klimawandel und der dadurch fortschreitenden Desertifizierung leiden. Nun will man einen 15 Kilometer breiten grünen Gürtel quer durch Afrika mit Bäumen bepfanzen um der fort-schreitenden Desertifizierung Einhalt zu gebieten. Denn der eklatante Wassermangel in vielen Regionen am Rande der Sahelzone, die Dürre und das Austrocken und Veröden ihrer Böden, treibt viele Menschen in die Verzweiflung. Aber immerhin ist Senegal eines der stabilsten Länder Afrikas mit einer funktionierenden Demokratie und keinem einzigen Militärputsch aber einigen Hundert Toten beim Abspaltungskampf der Casamance.

Zur Verteidigung leicht bewaffnet auf Wache in der Casamance an der Grenze zu Guinea Bissau

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Wie Putin sich mit Hilfe Deutschlands die Staatsanwaltschaft untertan machte

Berlin, den 16.01.2009 Bundeskanzleramt Foto: Wladimir Putin, Ministerpräsident von Russland.

von David Crawford , Marcus Bensmann (Correctiv vom 24. Juli 2015)

Auch große Geschichten beginnen manchmal unscheinbar. Diese hier 2007, in dem sächsischen Städtchen Delitzsch, wo einige Steuerbeamte einen Computerhändler überprüfen –Ralf K., CDU-Mitglied und Kreistags-Abgeordneter in Nordsachsen. Nicht lange, und die Beamten stolpern über Ungereimtheiten, über Abschreibungen in Höhe von 21 Millionen Euro, die so gar nicht zu den anderen Geschäften des Kleinunternehmers passen. Der Computerhändler hat den Ermittlungen zufolge Millionenaufträge in Russland abgerechnet, obwohl seine Firma weder das Personal noch die Logistik für solche Aufträge hat. Etwas ist faul. Die Staatsanwaltschaft wird eingeschaltet – und die INES, die „Integrierte Ermittlungseinheit Sachsen“, spezialisiert auf komplizierte Korruptionsfälle. Bald wird aus dem Verdacht auf Steuerhinterziehung eines Delitzscher Kleinunternehmers ein Korruptionsfall, der bis in die russische Staatsspitze führt, denn es stellt sich heraus, dass der Umsatz von dem amerikanischen Computerriesen Hewlett-Packard (HP) stammt.

Offenbar, so die Erkenntnis der Staatsanwälte,hat Ralf K. seit Frühjahr 2004 im Verbund mit HP eine schwarze Kasse eingerichtet. Demnach hat erst eine deutsche Tochterfirma von Hewlett-Packard Rechner und Software für gut elf Millionen Euro an Ralf K. geliefert. Und dann soll Ralf K. die gleiche Ware für rund 21 Millionen Euro zurück an HP verkauft haben. Der Gewinn, nach Abzug von Provision und Spesen: rund 9,3 Millionen Euro. Mindestens 7,6 Millionen Euro Schmiergeld sollen ausgezahlt werden. Schwarzgeld, das Ralf K. wenig später auf Konten in der ganzen Welt verteilt haben soll.Ralf K. ist nach Ansicht der Ermittler aber nur ein Handlanger, ein Rädchen in einem größeren Spiel. Die Weisungen kommen dabei nicht von HP. Sondern von dem Russen Sergej B. Er ist mit Ralf K. seit Anfang der 1990er Jahre befreundet.

Sergej B. machte damals ein Praktikum in Sachsen. Danach gründeten der Russe und der Deutsche Firmen mit fast identischen Namen und machten gemeinsam Geschäfte in den Weiten des ehemaligen Sowjetreichs. Auch die Empfänger des Schwarzgeldes können die Fahnder ermitteln – allen voran Mitarbeiter des russischen Geheimdienstes und der Generalstaatsanwaltschaft. Deren Vizechef Juri Birjukow, ein kleiner, stahlharter Mann mit einer unschönen Reibeisenstimme, unterschreibt die zum Teil gefälschten Dokumente, die die Schwarzgeldzahlungen in Gang setzen. Birjukow ist eine außerordentlich wichtige Figur in Putins Machtgefüge. Nur ein Beispiel: Als 2003 der Ölkonzern Yukos zerschlagen wird und dessen Chef Michail Chodorkowskij in Lagerhaft kommt, stellt eben dieser Juri Birjukow den Haftbefehl aus. Von 2004 an fließen, so die Ermittler, die von Birjukow ausgehandelten Bestechungsgelder über Tarnfirmen an Mitarbeiter von Generalstaatsanwaltschaft und Geheimdienst – der in diesen Jahren schon nicht mehr KGB heißt, sondern FSB.

Berlin, den 16.01.2009-Bundeskanzleramt. Foto: Wladimir Putin, Ministerpraesident von Russland. Copyright by: GMC Photoweb Reiner Zensen,
Berlin, den 16.01.2009-Bundeskanzleramt. Foto: Wladimir Putin, Ministerpraesident von Russland. Copyright by: GMC Photoweb/Reiner Zensen

Die Fakten

  • Im November 1999 ermöglicht Wladimir Putin den Kauf eines Computernetzwerks für die russische Generalstaatsanwaltschaft. Den Zuschlag bekommt der US-Computerriese Hewlett-Packard, der keineswegs das günstigste Angebot abgegeben hat. HP zeigt sich erkenntlich und zahlt mindestens 7,6 Millionen Euro Schmiergeld.
  • Das Geld landet unter anderem bei russischen Staatsanwälten und Geheimdienstmitarbeitern. Seit dieser Zeit hat nie wieder ein russischer Generalstaatsanwalt gegen Präsident Putin ermittelt.
  • Ohne deutsche Hilfe wäre der Deal nicht möglich gewesen: Das HP-Geschäft wurde mit Hermes-Bürgschaften abgesichert.

Wir entdecken die Bedeutung des Falls, als wir zurückgehen in das Jahr 1999. Es ist ein schicksalhaftes Jahr für Russland. In diesem Jahr inszeniert Wladimir Putin einen Sexskandal, zettelt einen Krieg an, bricht die Unabhängigkeit der russischen Staatsanwaltschaft, steigt auf zum russischen Präsidenten – und ermöglicht das Schmiergeldgeschäft mit HP. 

Als das Jahr 1999 beginnt, trägt Russland, trotz Korruption und Willkür, noch die Grundzüge eines Rechtsstaates. Eine Gewaltenteilung ist vorhanden, im Parlament, der Duma, erheben unabhängige Abgeordnete ihre Stimme, Teile der Justiz arbeiten eigenständig. Der Präsident heißt Boris Jelzin. Doch er steckt in Schwierigkeiten. Der Generalstaatsanwalt der russischen Föderation ermittelt gegen Jelzin und seine Verwandten. In der Schweiz sind ungeklärte Vermögen der Familie aufgetaucht, von denen Luxuswaren bezahlt wurden. Der Generalstaatsanwalt heißt Juri Skuratow, er traut sich, sogar gegen den Präsidenten zu ermitteln. Boris Jelzin ist in höchster Not. Doch er erhält Hilfe von einem gewissen Wladimir Putin. Im Jahr zuvor, die Ermittlungen gegen Jelzin haben gerade begonnen, hat er Putin zum Chef des Inlandsgeheimdienstes FSB gemacht, dem Nachfolger des KGB. 

Der Druck auf Generalstaatsanwalt Skuratow ist immens. Doch er ermittelt weiter. Bis zum 18. März 1999. An jenem Tag wird im russischen Fernsehen ein Film gezeigt, auf dem sich ein Mann, der dem Generalstaatsanwalt ähnlich sieht, mit zwei Frauen im Bett vergnügt. Schaut man das verwaschene Schwarzweiß-Video heute an, liegt der Verdacht nahe, dass es eine plumpe Fälschung ist – die Beteiligten agieren wie in einem Pornofilm, genau wissend, wo sich die Kamera befindet. Und Staatsanwalt Skuratow schwört Stein und Bein, dass er nicht der Mann im Film sei. Doch das Dementi rettet ihn nicht.  Denn Geheimdienstchef Putin sagt in einem Fernsehinterview: Seine Experten hätten festgestellt, dass der nackte Mann in dem Sexvideo sehr wohl Generalstaatsanwalt Skuratow sei. Das Wort von Geheimdienst-Chef Putin wiegt schwerer. Generalstaatsanwalt Skuratow ist nach dem Putin-Interview erledigt.

Wenig später wird er beurlaubt. Ein Nachfolger steht schon bereit: Wladimir Ustinow, begleitet von seinem Stellvertreter, eben jenem Juri Birjukow mit der Reibeisenstimme. Die beiden kennen sich aus dem Nordkaukasus, aus den wirren Jahren nach dem ersten Tschetschenien-Krieg. Die Ermittlungen gegen Boris Jelzin liegen fortan auf Eis. Der Dank des Präsidenten lässt nicht lange auf sich warten: Am 9. August 1999 ernennt er Putin zum Premierminister, zum zweiten Mann im Staat. Putins Amtszeit beginnt mit Tod und Terror. Im Wochenrhythmus werden Sprengstoff-Attentate auf große Wohnhäuser verübt, knapp 300 Menschen sterben. Am 22. September beobachten Hausbewohner in der Kleinstadt Rjasan Männer, wie sie Säcke in einen Hauskeller wuchten. Die herbeigerufene Polizei beschlagnahmt die Säcke – in denen Sprengstoff ist, wie ein Sprengmeister feststellt. Die Männer, so stellt sich heraus, sind Agenten des Geheimdienstes FSB.

Der russischen Öffentlichkeit gilt der Wohnhausterror weiterhin als das Werk tschetschenischer Terroristen. Den ersten Kriegsgang gegen Tschetschenien hatten die russischen Truppen verloren, im Jahr 1996 zogen sie sich zurück. Putin empfand diese Niederlage stets als Schmach, er will sie ausmerzen. Nun hat er einen Vorwand, einen neuen Kriegsgrund: Am 1. Oktober 1999 marschieren russische Soldaten ein nach Tschetschenien. Die Justiz ist fortan in Putins Hand. Sie wird ihn nicht mehr behelligen. Über all dem ist ein anderer Beschluss völlig untergegangen. Am 14. November 1999 entscheidet Putin, etwas Gutes für die Generalstaatsanwaltschaft zu tun. In einem Regierungsbeschluss gestattet er der Behörde, 30 Millionen Dollar von einer ausländischen Bank zu leihen, um dafür ein Computernetzwerk anzuschaffen. Eine merkwürdige Entscheidung. Russland ist nach der Rubelkrise fast pleite. Krankenhäuser verrotten. Warum ausgerechnet jetzt ausländische Darlehen für die Generalstaatsanwaltschaft? Ein solcher Deal lädt förmlich ein zu Korruption. Das dürfte auch Putin wissen. Winkt er ihn ganz bewusst durch, damit sich die neuen Generalstaatsanwälte die Taschen füllen können — und er sich so ihrer Loyalität versichern kann? 

(Quelle: Correctiv)

Deutschlands Ausland-Korruption und deren Auswirkungen auf andere Länder

Bisher unveröffentlichte Akten geben neue Einblicke in die Auslandsbestechung der deutschen Wirtschaft – und wie selten die Justiz die Täter verurteilt. Die Unterlagen zeigen: Schmiergeld ist in der Rüstungsindustrie noch verbreiteter als bisher bekannt. Osteuropa und Russland zählen zu den am meisten betroffenen Regionen.

Deutschland unterzeichnete 1999 ein Abkommen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) gegen Korruption. Als Teil der Vereinbarung muss Deutschland jedes Jahr an die Organisation berichten, wie die eigene Justiz gegen Auslandsbestechung von deutschen Konzernen vorgeht. Politik und Justiz kümmerten sich zunächst jedoch wenig die Umsetzung, so dass die schmierigen Gelder weiterflossen. Allerdings musste die Korruption fortan vor den deutschen Finanzämtern verborgen werden. Die Konzerne tarnten die Geldströme besser und reduzierten die Schmiergeldsätze. Die OECD kritisiert die deutsche Praxis, Auslandsbestechung im Wesentlichen mit Geldauflagen gegen die involvierten Manager zu ahnden. Geldauflagen werden zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung ausgehandelt und von einem Gericht nur bestätigt. Zu einer Gerichtsverhandlung kommt es nicht, womit die meisten Fälle unbekannt bleiben.

Die deutsche Justiz widmete sich erst einige Jahre später ernsthaft der Auslandsbestechung. Staatsanwaltschaften unter anderem in Italien und der Schweiz waren den schwarzen Kassen bei Siemens auf die Spur gekommen. Auch Ermittler in den USA trieben anschließend die Aufklärung der deutschen Auslandsbestechung voran. In Deutschland gehen insbesondere Staatsanwaltschaften in München, Stuttgart und Frankfurt ab Mitte der 2000er Jahre Verdachtsfällen nach. Die Justiz anderer Bundesländer kümmert sich bis heute wenig um das Thema.

„Für die Staatsanwaltschaften sind Auslandsbestechungen unglaublich schwer zu ermitteln“, sagt Elisa Hoven, Professorin unter anderem für deutsches und ausländisches Strafrecht an der Universität Leipzig. Sie hat jahrelang zu Auslandsbestechung geforscht. „Das liegt daran, dass die Abläufe sehr komplex sind, dass sie sich im Ausland vollziehen, dass das immer weiter professionalisiert wird.“Immer wenn deutsche Behörden eine Methode zur Abwicklung von Bestechung erkennen, fließt das Geld auf neuen Wegen.

„Jetzt ist man mittlerweile beim Outsourcing: Also dass man komplett etwas in ein Tochterunternehmen im Ausland verlagert hat und dort alles hat ablaufen lassen. Da ist dann ganz schwer ranzukommen.“Ohne Insider, die auspacken, ist das schwierig nachzuvollziehen. Und deutsche Staatsanwälte sind dabei auf internationale Zusammenarbeit angewiesen, die außerhalb der EU oft von vornherein aussichtslos ist oder sehr langsam vonstatten geht. Seit über zehn Jahren recherchiert Frederik Richter zum Schwerpunkt Korruption. Er empfiehlt Ihnen Lesestücke zu weltweiten Korruptionsfällen. Häufig geht es dabei um die Folgen – für das Leben der Menschen und für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie.

Bei diesen Schwierigkeiten wundert es nicht, dass ein großer Teil der Ermittlungen wegen Auslandsbestechung ergebnislos eingestellt werden. Bei den Verfahren, die mit einer Strafe enden, stehen 80 Geldauflagen 26 Bewährungsstrafen gegenüber. Seit 2014 kam es lediglich in zwei Fällen zu einer Gefängnisstrafe.Ein weiterer Grund für die Intransparenz: Der Widerstand der Wirtschaft verhindert bis heute die Einführung eines Unternehmensstrafrechts in Deutschland. Damit kann die Justiz nur Personen, nicht aber Firmen anklagen. Die Folge davon ist, dass auch bei großen Wirtschaftsskandale Geldauflagen ohne öffentliches Verfahren verhängt werden. Angela Reitmaier von Transparency Deutschland sagt, dass nur öffentlich bekannte Strafen auch abschreckend seien. „Wenn in einem Verfahren wegen Auslandsbestechung eine Hauptverhandlung stattfindet, ist sie öffentlich und häufig berichtet auch die Presse darüber, vor allem die lokale. Aber in zunehmendem Maße werden Verfahren gegen Zahlung einer Geldauflage eingestellt.“

Dabei gelten Staatsanwälte und Gerichte in München eigentlich als Vorreiter bei der Aufarbeitung von Auslandsbestechung. Bei weitem nicht jedes Bundesland zeigt den gleichen Eifer bei der Verfolgung von Auslandskorruption. In Bayern liefen in den vergangenen sechs Jahren 23 Verfahren, in Nordrhein-Westfalen hingegen nur vier – obwohl die dortige Exportwirtschaft etwas größer ist als die bayerische. Die Staatsanwaltschaft Bremen führte zahlreiche Verfahren gegen Beschuldigte der Bremer Rüstungsindustrie – die Justiz des Bundeslands Niedersachsen taucht in den OECD-Akten nur zweimal auf. Dabei gibt es auch in Niedersachsen einen großen Rüstungsstandort – die dortige Justiz ließ sich jedoch eher vom Rüstungskonzern Rheinmetall in einem Streit mit einem früheren Geschäftspartner einspannen anstatt dem Bestechungsverdacht nachzugehen, wie CORRECTIV gemeinsam mit dem Stern 2020 aufdeckte.

Elisa Hoven von der Universität Leipzig hat das Gefälle zwischen den Bundesländern in einer Studie untersucht. Sie geht davon aus, dass das Ausmaß der Auslandsbestechung in der deutschen Wirtschaft auch gut zwei Jahrzehnte nach ihrem Verbot größer ist als gemeinhin angenommen. „Wir müssen davon ausgehen, dass das Dunkelfeld gerade im Bereich der Auslandsbestechung erheblich ist.“ Als Unterzeichnerstaat der OECD-Konvention hat sich die Bundesregierung jedoch verpflichtet, die eigene Justiz auch tatsächlich gegen Auslandsbestechung vorgehen zu lassen. Daher berichtet sie jährlich an die Organisation über die laufenden Ermittlungsverfahren.

Weil in Deutschland die Bundesländer für die Justiz zuständig sind, erstellt die Bundesregierung die jährlichen Berichte auf Grundlage von Meldungen der Landesjustizministerien. CORRECTIV hat mithilfe von IFG-Anfragen die Berichte der Bundesregierung an die OECD sowie die Berichte der Bundesländer an die Bundesregierung die Unterlagen für die letzten sechs Jahre erhalten. Dieser Zeitraum ist nur ein Ausschnitt: Viele der Verfahren begannen bereits vor 2015 und viele davon laufen heute noch. Auslandsbestechung ist für deutsche Ermittler in vielen Fällen schwer nachzuweisen.

Die Bestechung geht jedoch oft einher mit anderen Straftaten wie Steuerhinterziehung, Untreue oder Geldwäsche. Staatsanwaltschaften konzentrieren sich in vielen Fällen also auf diese Straftaten, um Verurteilungen zu erreichen. Über die Auslandsbestechung wird dann in den Akten nicht weiter berichtet. Überhaupt finden sich in den Akten nur jene Fälle, die die Justiz auch erreichen. Die OECD kritisiert, dass es in Deutschland bis heute am ehesten die Finanzämter sind, die bei Konzernprüfungen auf Auslandsbestechung aufmerksam werden. Hinweisgebende stoßen in Deutschland vergleichsweise wenig Verfahren an, weil ihr Schutz in Deutschland weniger robust ist. Auch auf Presseberichterstattung reagieren deutsche Staatsanwaltschaften laut OECD seltener als in anderen Ländern.

(Quelle: Correctiv)

Produkte länger nutzen, schützt das Klima

Wenn wir Konsumprodukte wie Waschmaschinen, Smartphones, Kleider und Möbel länger nutzen, trägt dies beträchtlich zum Klimaschutz bei – mehr als das Recycling. Das zeigt eine neue Studie des Forschungs- und Beratungsunternehmen INFRAS im Auftrag von Greenpeace Schweiz. Greenpeace Schweiz setzt sich darum für eine echte Kreislaufwirtschaft ein und fordert ein «Recht zu Reparieren».

Die Schweizer Bevölkerung konsumiert zu viel: Würden alle Länder so viel konsumieren wie die Schweiz, bräuchten wir fast drei Erden. Dieser Überkonsum schadet auch dem Klima. Die in- und ausländische Produktion von Konsumgütern ist für 9 Prozent des Schweizer CO2-Fussabdrucks verantwortlich. Eine Studie des Forschungs- und Beratungsunternehmen INFRAS zeigt nun: Indem Konsumprodukte länger genutzt werden, kann eine signifikante Menge an Treibhausgas-Emissionen eingespart werden.

Längere Nutzungsdauer aus Umweltsicht sinnvoll
In der von Greenpeace Schweiz beauftragten Studie untersuchte INFRAS für fünf Konsumgüterkategorien (Waschmaschinen, Notebooks, Smartphones, Bekleidung und Möbel), wie sich eine längere Nutzungsdauer auf den CO2-Fussabdruck der Schweiz auswirken würde. Die Ergebnisse zeigen: eine längere Nutzungsdauer ist aus Umweltsicht quasi immer sinnvoll.
Würden beispielsweise alle Kleider in der Schweiz drei Jahre länger getragen, könnten wir damit 1,5 Mio. Tonnen CO2-Äquivalente einsparen. Das entspricht der gleichen Menge, die ein Auto ausstossen würde, dass die Welt am Äquator 186’000 Mal umrundet (7,4 Mrd. Kilometer). Würden wir unsere Smartphones drei Jahre länger nutzen, entsprächen die eingesparten Klimagase 11’400 Äquator-Umrundungen mit dem Auto.

INFRAS schätzt, dass sich der Schweizer CO2-Fussabdruck um 1,8 bis 4 Mio. Tonnen CO2-Äquivalent reduzieren liesse, würden alle Konsumprodukte in der Schweiz ein bis drei Jahre länger genutzt. Als Vergleich: Das PET-Recycling schaffte 2020 Einsparungen von 137’000 Tonnen CO2-Äquivalenten.Aus methodischen Gründen beschränkte sich INFRAS in ihrer Studie auf die Betrachtung von Treibhausgasemissionen. Eine längere Nutzungsdauer von Produkten bringt aber eine Reihe weiterer positiver Umweltwirkungen mit sich, zum Beispiel bei der Landnutzung.

Teilen, Wiederverwenden, Wiederaufbereiten und Reparieren
Um die Nutzungsdauer von Konsumprodukten zu verlängern, ist eine echte Kreislaufwirtschaft unerlässlich. Diese sieht Recycling, Verbrennung und Deponierung als letzte Auswege, da dabei Energie und Rohstoffe verloren gehen. Wichtiger sind das Teilen, Wiederverwenden, Reparieren und Wiederaufbereiten von Produkten. Diese Strategien setzen bereits in der Produktions- und Nutzungsphase an und können so den Verbrauch an Primärrohstoffen reduzieren. «Mit unserem aktuellen Konsumverhalten beuten wir die Umwelt aus und schaden dem Klima. Es ist an der Zeit, unseren Konsum grundsätzlich zu hinterfragen und dem Reparieren, Teilen, Wiederverwenden und Wiederaufbereiten Vorrang einzuräumen. Hier ist nun die Politik gefragt», sagt Barbara Wegmann, Konsum- und Kreislaufwirtschaftsexpertin bei Greenpeace Schweiz. Eine besonders wichtige Rolle für die Verlängerung der Nutzungsdauer spielen Reparaturen. Um die Reparaturrate in der Schweiz zu steigern, braucht es ein Bündel an politischen Massnahmen. Zu diesem Schluss kommt INFRAS in ihrer Studie. Ein solches Massnahmenbündel fordert Greenpeace mit der Petition für ein «Recht zu Reparieren»: Jede:r soll selbst entscheiden können, wo, zu welchem Preis und in welchem Umfang ein defekter Gegenstand repariert werden soll. Ein solches Recht zu Reparieren soll im Rahmen der laufenden Revision im Umweltschutzgesetz verankert werden.

Mehr Informationen:
Zusammenfassung der Studie und ganze Studie
Bildmaterial
Petition Recht zu Reparieren
(Quelle: Greenpeace Schweiz)

In der Schweiz leiden neun Prozent der Menschen unter einer mittleren oder schweren Depression. Es gibt zwar verschiedene Methoden zur Behandlung, doch bei schwerer Depression bringen sie einem Drittel der Betroffenen keine Besserung.

Neue Formen der Therapie sind also gefragt. Nun deuten immer mehr Studien darauf hin, dass Psilocybin hilft, Symptome bei Depression zu lindern. Der halluzinogene Wirkstoff steckt auch in Magic Mushrooms, psychoaktiven Pilzen, und löst psychedelische Rauschzustände aus.

Im letzten Jahr veröffentlichte das Centre for Psychedelic Research am Imperial College London einen Bericht, in dem es Psilocybin mit dem Antidepressivum Escitalopram verglich. Die Studie, publiziert im renommierten «New England Journal of Medicine», zeigt, dass der Wirkstoff bei der Behandlung mittelschwerer oder schwerer Erkrankungen genauso gut wirkt wie das Depressionsmittel Escitalopram.

Das ist aus mehreren Gründen vielversprechend. Antidepressiva wirken nur gerade bei rund der Hälfte der Betroffenen. Und selbst wenn sie wirken, gibt es häufig starke Nebenwirkungen wie Gewichtszunahme Gewichtszunahme Machen Antidepressiva dick? , Kopfschmerzen, Kreislaufprobleme, innere Unruhe und Störungen der Libido. Zudem müssen Antidepressiva normalerweise täglich und über Monate eingenommen werden.Welche Nebenwirkungen hat Psilocybin?

Die Nebenwirkungen der einmaligen Einnahme von Psychedelika beschränken sich meist auf eine leichte Übelkeit zu Beginn und vorübergehende Kopfschmerzen nach der Einnahme. Psilocybin macht zudem körperlich nicht abhängig. Auch das Risiko einer psychischen Abhängigkeit ist insbesondere in einem streng kontrollierten medizinischen Rahmen gering. Mit 59 Teilnehmenden ist es zwar eine eher kleine Studie – doch die Londoner Forschenden konnten zeigen, dass Psilocybin schneller wirkte als das Antidepressivum und beide Behandlungen etwa gleich effektiv waren.

Pilze, die Psilocybin enthalten, wurden von indigenen Völkern schon seit Jahrhunderten in religiösen Ritualen benutzt. Der Westen entdeckte den Wirkstoff erst in den späten Fünfzigerjahren. So gelang es dem Basler Albert Hofmann, dem Entdecker von LSD, den psychoaktiven Stoff aus den Pilzen zu isolieren. Weil die Untersuchung psychedelischer Substanzen im Ausland lange nahezu verboten war, hat man dort erst in den letzten Jahren begonnen, ihre Effekte an Menschen zu testen. Die Schweiz ist bei der Erforschung ganz vorn mit dabei. Denn hier ist sie erlaubt – unter Einhaltung strenger Auflagen und wenn das Bundesamt für Gesundheit, Swissmedic sowie die kantonale Ethikkommission zustimmen.

Auch das Forschungsteam der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (PUK) möchte herausfinden, wie halluzinogene Stoffe wie LSD oder Psilocybin bei Depressionen helfen. Dazu nehmen Probandinnen und Probanden den Wirkstoff unter Beobachtung ein. Während des mehrstündigen, von Fachleuten begleiteten Trips lösen sich die Grenzen des Selbst allmählich auf, und ein Gefühl des Glücks und der Verbundenheit mit anderen und der Welt breitet sich aus. Das Gehirn wird dabei auf eine Weise aktiviert, die es ermöglicht, Informationen anders zu verarbeiten und so eher aus der negativen Gedankenschleife herauszufinden.

Wieso es depressiv Erkrankten nach einem professionell geführten Trip anhaltend besser geht, können die Forschenden noch nicht vollständig erklären. Klar ist aber, dass es neben der einmaligen Verabreichung des Wirkstoffs eine intensive Psychotherapie braucht. Darin besteht ein wichtiger Teil dieses Therapieansatzes, sagt Oliver G. Bosch, Psychiater und Oberarzt an der PUK. «Die Einnahme löst einen aussergewöhnlichen Zustand aus. Er kann dabei helfen, ein festgefahrenes Muster aufzubrechen. Damit die Behandlung aber tatsächlich Wirkung zeigt, muss das Erlebte anschliessend in einer klassischen Psychotherapie verarbeitet werden.» Wichtig sei deshalb auch, diese Substanzen nicht zu idealisieren. «Psychedelika sind keine Wunderpillen, sie können eine ergänzende Behandlungsmethode für jene darstellen, die auf konservative Therapieformen nicht ausreichend ansprechen.» Es gehe bei der ganzen Forschung also keineswegs darum, eine Alternative zu Antidepressiva herzustellen, sondern die Behandlungsoptionen zu erweitern.Traumata aufarbeiten

Psychedelika zeigen aber nicht nur im Zusammenhang mit Depressionen vielversprechende Resultate. Auch bei der Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) haben Forschende an der University of California in San Francisco letztes Jahr eine wichtige Hürde in der Medikamentenforschung genommen. In einer klinischen Studie mit 90 Teilnehmenden, die unter einer schweren und chronischen PTBS leiden, wurden verblüffende Resultate mit dem Wirkstoff MDMA erzielt, dem bekanntesten Bestandteil von Ecstasy «Es sind mehr, als man meint» Späte Liebe zu LSD, Ecstasy & Co. .

Im Verlauf der 18-wöchigen Studie stellte man fest, dass die PTBS-Symptome signifikant und anhaltend schwächer wurden – bei jenen Patientinnen und Patienten, die eine MDMA-unterstützte Traumatherapie durchliefen, deutlich stärker als bei der Vergleichsgruppe, die ein Placebo erhielt. Zwei Monate nach der Behandlung erfüllten 67 Prozent der Teilnehmenden aus der MDMA-Gruppe die Diagnosekriterien für eine posttraumatische Belastungsstörung nicht mehr, verglichen mit 32 Prozent in der Placebogruppe.

Das könne unter anderem daran liegen, dass MDMA in Kombination mit einer Gesprächstherapie ein «Fenster der Toleranz» schaffe, schreiben die Forschenden in der Zeitschrift «Nature Medicine». Darin könnten Betroffene traumatische Erlebnisse aufarbeiten, ohne von Schmerz oder Angst überwältigt zu werden.

Woher die therapeutische Wirkung von MDMA kommt, ist nicht ganz geklärt. Die Vermutung liegt nahe, dass MDMA unter anderem den Spiegel verschiedener chemischer Botenstoffe hebt und so Empfindungen wie Empathie, Vertrauen und Mitgefühl hervorruft. Ähnlich wie Psilocybin bringt auch MDMA kaum ernsthafte unerwünschte Nebenwirkungen mit sich. Einige Studienteilnehmende hätten über vorübergehende Übelkeit und Appetitlosigkeit geklagt.Gehirn heilt sich selbst

Interessant dürfte vor allem sein, dass MDMA, anders als herkömmliche Arzneimittel, wohl nicht nur die Symptome der PTBS bekämpft. In Kombination mit einer Therapie ermögliche MDMA dem Gehirn von PTBS-Betroffenen, sich selbst zu heilen, erklärt die Neurologin Jennifer Mitchell, Hauptautorin der Studie.

Wie Oliver G. Bosch von der Zürcher PUK betonen die Forschenden auch bei der Behandlung mit MDMA: Es ist nicht die Droge selbst, die die Heilung bringt, sondern die Therapie, die durch die Droge verstärkt wird.

Beispiellose Repression gegen unabhängige Medien und Antikriegsbewegung

Switzerland: The Police forces are observing a demonstration in Zürich City with a video camera. © GMC

11.03.2022 Die russischen Behörden gehen mit brutaler Repression gegen unabhängigen Journalismus, Antikriegsproteste und abweichende Meinungen vor. Seit dem militärischen Einmarsch in die Ukraine wurden in Russland fast 14’000 Menschen bei Antikriegskundgebungen willkürlich verhaftet, mehr als 150 Journalist*innen flohen bereits ausser Landes.

Dadurch, dass sie die populärsten kritischen Medien blockiert, unabhängige Radiosender geschlossen und Dutzende Journalist*innen gezwungen haben, ihre Arbeit einzustellen oder das Land zu verlassen, haben die Behörden den Menschen in Russland fast vollständig den Zugang zu objektiven, unvoreingenommenen und vertrauenswürdigen Informationen genommen. Die russische Medienaufsichtsbehörde Roskomnadzor hat ausserdem den Zugang zu Facebook und Twitter gesperrt.

«Seit zwei Jahrzehnten führen die russischen Behörden einen verdeckten Kampf gegen Andersdenkende, indem sie Journalist*innen festnehmen, gegen unabhängige Redaktionen vorgehen und Medienunternehmen zur Selbstzensur zwingen. Seit dem Vordringen russischer Panzer in die Ukraine sind die Behörden jedoch zu einer Strategie der verbrannten Erde übergegangen, die die russische Medienlandschaft in Ödland verwandelt hat», sagt Marie Struthers, Direktorin für Osteuropa und Zentralasien bei Amnesty International.

Kritische Berichterstattung zum Schweigen gebracht

Mit Beginn der Invasion hat Roskomnadzor eine kriegsähnliche Zensur eingeführt, um kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen. Am 24. Februar wies die Aufsichtsbehörde alle Medien an, nur noch offizielle Informationen aus staatlichen Quellen zu verwenden. Andernfalls drohten harte Strafen für die Verbreitung von «Falschinformationen». Die Begriffe «Krieg», «Invasion» und «Angriff» dürfen zur Beschreibung der russischen Militäroperationen in der Ukraine nicht verwendet werden.

«Die freie Presse in Russland ist trotz der unerbittlichen Bemühungen der Behörden nicht tot. Die mutigen Journalist*innen setzen ihre wichtige Arbeit fort, nicht in den Redaktionen, sondern als Reporter*innen im weltweiten Exil.» Marie Struthers, Direktorin für Osteuropa und Zentralasien bei Amnesty International

Am 28. Februar blockierte Roskomnadzor die Website des zur Gruppe Radio Free Europe/Radio Liberty gehörenden Radiosenders Nastoyashchee Vremya (Aktuelle Zeiten) wegen der Verbreitung «unzuverlässiger» Informationen über die Invasion. Am 1. März waren nahezu alle ukrainischen Nachrichtenmedien für Internetnutzer*innen in Russland unzugänglich.

In den Tagen darauf zensierte der Kreml rücksichtslos eine ganze Reihe unabhängiger Medien, darunter den Fernsehsender TV Rain, den Radiosender Echo Moskwy, die in Lettland ansässige Internetzeitung Meduza, die kritischen russischen Internetzeitungen Mediazona, Republic und Sobesednik, das Aktivistenportal Activatica sowie das russischsprachige Programm von BBC, Voice of America und Deutsche Welle.  

Die Sperrung von Nachrichtenseiten und die Androhung strafrechtlicher Verfolgung haben auch zu einer Abwanderung von Journalist*innen aus Russland geführt. Nach Angaben von Agentstvo, einer in Russland nicht mehr zugänglichen Website für investigativen Journalismus, sind seit Beginn des Krieges mindestens 150 Journalist*innen aus dem Land geflohen. 

TV Rain entschied sich aus Angst vor Repressalien, den Sendebetrieb einzustellen. Znak.com, ein bedeutender regionaler Nachrichtensender, stellte seinen Betrieb ein, weil er Zensur befürchtete. Der Radiosender Echo Moskwy wurde vom Netz genommen. Kurz darauf beschlossen die regierungsnahen Eigentümer*innen, das Unternehmen zu liquidieren. Sogar die Novaya Gazeta, ein Leuchtturm des unabhängigen Journalismus unter der Leitung des Friedensnobelpreisträgers Dmitri Muratow, kündigte am 4. März an, dass sie Artikel über den Einmarsch Russlands in der Ukraine entfernen werde.

Am 1. März begann Roskomnadsor, den Datenverkehr auf Twitter und Facebook zu verlangsamen, und beschuldigte beide Unternehmen dann der Verbreitung «ungenauer» Informationen über den Konflikt in der Ukraine. Am 4. März wurde der Zugang zu beiden Social-Media-Plattformen gesperrt.

«Die freie Presse in Russland ist trotz der unerbittlichen Bemühungen der Behörden nicht tot. Die mutigen Journalist*innen setzen ihre wichtige Arbeit fort, nicht in den Redaktionen, sondern als Reporter*innen im weltweiten Exil. Sie sind vielleicht nicht im Fernsehen zu sehen oder im Radio zu hören, doch ihre Wahrheit wird auf YouTube live gestreamt. Ihre Worte zieren nicht die Seiten der Zeitungen, sondern werden über Telegram-Kanäle in die Welt hinausgetragen. Die wichtigen Informationen all dieser Korrespondenten müssen geteilt werden und Wertschätzung erfahren», so Marie Struthers. 

Instrumentalisierung von Gesetzen

Die russischen Behörden haben auch auf berüchtigte repressive Gesetze zurückgegriffen, um gegen die Medien und abweichende Meinungen vorzugehen. Am 5. März wurden zwei investigative journalistische Medien, Vazhnye Istorii (Wichtige Geschichten) sowie das Projekt zur Erfassung und Veröffentlichung von organisierter Kriminalität und Korruption (Organized Crime and Corruption Reporting Project, OCCRP), als «unerwünschte Organisationen» eingestuft. Damit war ihre Tätigkeit strafbar und ihnen das Arbeiten in Russland ab diesem Zeitpunkt nicht mehr möglich.

Am 9. März wurde in der Staatsduma ein neuer Gesetzentwurf eingebracht, um ein «einheitliches Register» zu schaffen für alle aktuellen und ehemaligen Mitarbeiter*innen oder Mitglieder von NGOs, öffentlichen Verbänden und Medieneinrichtungen sowie alle Einzelpersonen, die als «ausländische Agenten» eingestuft wurden.

Unterdrückung von Antikriegsprotesten

Trotz der Einführung drakonischer Restriktionen und des brutalen Vorgehens der Polizei gegen friedliche Proteste kommt es auf den Strassen weiterhin zu zahlreichen Kundgebungen der Antikriegsbewegung.

Nach Angaben von OVD-Info, einer NGO zur Überwachung der Polizei, wurden seit dem 24. Februar in ganz Russland rund 13‘800 friedliche Demonstrierende nach Antikriegskundgebungen willkürlich festgenommen. Zu dieser Zahl gehören mehr als 5‘000 friedliche Demonstrierende, die allein am 6. März in 70 Städten festgenommen wurden. 

In Russland sind Menschen, die ihrer Freiheit beraubt werden, routinemässig Schlägen, Demütigungen und anderen Formen der Misshandlung ausgesetzt. Viele Menschen berichten ausserdem, dass ihnen der Zugang zu einem Rechtsbeistand verwehrt wurde oder sie keine Nahrung, kein Wasser und keine Schlafmöglichkeit erhielten. 

In einem speziellen Fall, der sich am 6. März auf dem Moskauer Polizeirevier Bratejewo ereignete, nahm eine Demonstrantin auf, was ein Polizist zu ihr sagte: «Es ist vorbei. Putin ist auf unserer Seite. Ihr seid die Feinde Russlands. Ihr seid die Feinde des Volkes.» Weiter sagte er, «Wir werden euch alle töten, und das war‘s dann. Dafür bekommen wir noch eine Belohnung.» Dabei zogen sie ihr an den Haaren und schlugen ihr mit einer Plastikwasserflasche ins Gesicht. 

«Die mutigen Menschen in Russland, die sich dem Krieg widersetzen, sind einem hohen persönlichen Risiko ausgesetzt. Wenn sie auf die Strasse gehen, was in den Augen der Behörden bereits ein Verbrechen ist, und ein Ende des Krieges fordern, steht ihre Botschaft in so krassem Gegensatz zur staatlichen Propaganda, dass sie dadurch unweigerlich ins Visier der Sicherheitskräfte geraten. Dabei sollten diese Menschen dafür gefeiert werden, dass sie es wagen, ihre Stimme gegen das Unrecht der Invasion zu erheben», so Marie Struthers.

Kriminalisierung von «Falschinformationen»

Am 4. März verabschiedete das russische Parlament ein Gesetz, das die Weitergabe von «Falschinformationen» über die Aktivitäten der russischen Streitkräfte oder die «Diskreditierung» der russischen Truppen unter Strafe stellt. Jeder Person, die dieser «Verbrechen» beschuldigt wird, drohen extrem hohe Geldbussen oder eine Gefängnisstrafe von bis zu 15 Jahren. In den darauffolgenden drei Tagen kam es zu mehr als 140 Festnahmen aufgrund des neuen Gesetzes, das die Verwendung des Begriffs «Krieg» sowie Aufrufe zum «Frieden» verbietet.

«In dunklen Zeiten wie diesen können nur Solidarität und guter Wille dem Ansturm staatlicher Gewalt und zunehmender Gesetzlosigkeit etwas entgegensetzen. Wir fordern die russischen Behörden auf, ihre unerbittlichen Angriffe gegen zivilgesellschaftliche Organisationen und Journalist*innen einzustellen. Und wir appellieren an die internationale Gemeinschaft, russische Reporter*innen, Menschenrechtsverteidiger*innen und Aktivist*innen, die weiterhin die Wahrheit sagen und sich gegen Unrecht wehren, obwohl sie für ihre Sache furchtbar leiden müssen, in jeder erdenklichen Weise zu unterstützen», sagt Marie Struthers. 

(Quelle: AmnestyInternational)

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Ohne Gas und Öl aus Russland: Wie Deutschland Energie sparen kann

Ein Embargo von Gas und Öl aus Russland würde es notwendig machen, dass wir weniger davon verbrauchen. Während in der Politik Pläne für einen Umstieg auf andere Energiequellen diskutiert werden, hilft unmittelbar nur ein sinkender Konsum. Fachleute sehen viele Einsparmöglichkeiten.

von Annika Joeres , Gesa Steeger 11. März 2022

Auch mehr als zwei Wochen nach der russischen Invasion in der Ukraine zahlt Deutschland täglich hunderte Millionen Euro für Gas und Öl aus Russland. Die Bundesregierung hält weiterhin an den Importen fest. Aber diese Linie ist unter den Abgeordneten der Fraktionen im Bundestag umstritten: Einige Abgeordnete würden die Importe lieber sofort stoppen. Und im Gegenzug die Industrie und Bürgerinnen und Bürger um vorübergehenden Verzicht bitten. 

Nur das kurzfristig mögliche Einsparen von Energie kann die Abhängigkeit von russischen Importen unmittelbar senken. Denn alle diskutierten Alternativen, etwa das klimaschädliche Flüssiggas aus den USA zu importieren oder Solar- und Windkraftanlagen auszubauen, liefern frühestens im kommenden Jahr nennenswert zusätzliche Energie. 

Forschende sind sich zunehmend einig, dass daher als Erstes über einen sinkenden Verbrauch von Energie gesprochen werden muss – und zugleich über alternative Angebote. Noch hat das Bundeswirtschaftsministerium nach Informationen von CORRECTIV keine eigenen Studien dazu beauftragt, wieviel Gas und Öl etwa durch kühlere Wohnungen, Tempolimits oder Einschränkung des Flugverkehrs eingespart werden könnten. Alle Aufmerksamkeit richtet sich darauf, den bestehenden Verbrauch im Fall eines Embargos aus anderen Quellen zu bestreiten. 

Wohnungen auf 19 Grad zu heizen, könnte 20 Prozent Energie einsparen

Aber was bedeutet es konkret für Bürgerinnen und Bürger, ohne russische Energie auszukommen? Die größte Herausforderung wäre das fehlende Gas, mit dem bislang in rund der Hälfte aller Haushalte geheizt und gekocht wird. „Die Räume um ein Grad weniger zu heizen, bedeutet sechs bis sieben Prozent weniger Gas zu verbrauchen“, sagt Bruno Burger, Energiespezialist beim Fraunhofer-Institut für Solarenergie. „Bei drei Grad sparen wir also 20 Prozent ein, das ist enorm.“ Der Internationalen Energieagentur IEA zufolge liegt die durchschnittliche Temperatur in europäischen Gebäuden bei mehr als 22 Grad Celsius. Zwischen drei und vier Grad Wärme in der Wohnung zu verlieren, hieße für viele bei 18 oder 19 Grad zu leben und zu arbeiten – eine gesunde Temperatur. 

Bisher aber steht im deutschen Mietrecht, dass in Wohnungen eine Mindest-Raumtemperatur von 20 bis 22 Grad Celsius herrschen sollte. Dies ließe sich gesetzlich ändern. Ebenso wie eine Höchsttemperatur von Heizungsanlagen in Einfamilienhäusern. Schon vor der Krise haben Expertinnen und Experten vorgeschlagen, Bürgerinnen und Bürger dafür zu belohnen, Energie einzusparen – etwa bei sinkendem Verbrauch weniger für eine Kilowattstunde zahlen zu müssen.

Der Energiespezialist Burger vom Fraunhofer-Institut glaubt, die Menschen seien bereit, auf Komfort zu verzichten. „Es ist für mich schwer zu verstehen, dass wir uns um die Heizung im nächsten Winter Sorgen machen, während die Menschen in der Ukraine jede Stunde um ihr Leben bangen“, sagt der Wissenschaftler. Zumal auch hier verschiedene Optionen diskutiert werden, Geringverdiener bei knappem Angebot und damit höheren Preisen zu entlasten. Darunter fallen progressive Energietarife, bei denen jeder Haushalt pro Person einen angemessenen Grundbedarf günstig erhält und alles, was darüber hinausgeht, teuer bezahlen muss.

„Ein Fehler, in der Industrie nicht über Einsparungen zu sprechen“

Auch darüber, wie das Gas für die Industrie zu ersetzen ist, spricht kaum jemand. Heute nicht, aber auch schon vor dem Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine nicht: Während fossiles Gas im Stromsektor laut aktuellem Entwurf des Erneuerbaren-Energien-Gesetzes ab 2035 kaum noch eine Rolle spielen soll, gibt es keinen verbindlichen Fahrplan für einen Ausstieg aus dem Gas in der Industrie. 

Unternehmen nutzen Gas, um Stoffe zu erwärmen, etwa in der Nahrungsmittel-, Glas-, Keramik- und Metallindustrie. Nach Angaben des Deutschen Energie- und Wasserwirtschaftsverbandes DEW wird Gas benötigt, um zum Beispiel Öfen in Großbäckereien zu erhitzen oder auch um Papier herzustellen. Der Ludwigshafener Chemiegigant BASF etwa stellt mit Gas Ammoniak für Düngemittel her. Diese Produktion ist insgesamt energieintensiv und verursacht viele Treibhausgase, der Dünger selbst auf den Feldern verunreinigt das Trinkwasser, muss langfristig also ohnehin deutlich weniger genutzt werden. Auch hier könnte schnell nach Alternativen gesucht werden. 

„Es ist ein großer Fehler, dass wir gar nicht über Einsparungen in der Industrie sprechen“, sagt Constantin Zerger, Gas-Experte der deutschen Umwelthilfe. Es fehlten transparente Daten darüber, wie viel russisches Gas einzelne Industrie nutzen und wie sie diese Energiequelle, auch aus Klimaschutzgründen, künftig ersetzen könnten. 

Zerger plädiert für einen Kompromiss: Die Gaspipeline Nordstream 1 durch die Ostsee sollte abgeschaltet werden, dafür aber Gas durch die Erdleitungen, die auch durch die Ukraine führen, importiert werden. „Das könnte Putin davon abhalten, ukrainische Regionen mit dieser Gaspipeline zu bombardieren“, hofft Zerger. Er schlägt darüber hinaus vor, die Zahlungen für das Gas zunächst auf ein Sperrkonto zu überweisen: „Ansonsten finanziert die Industrie den Krieg in Ukraine weiter mit. Die Gelder dürfen erst freigegeben werden, wenn sich Russland aus der Ukraine zurückzieht.“ Langfristig erwartet Zerger eine Antwort der Bundesregierung darauf, wann das Gas in der Industrie auslaufen soll. „Da fehlt noch ein konkretes Ausstiegsdatum.“

Einige Forschende gehen inzwischen ohnehin davon aus, dass die Industrie ihre Produktion kurzfristig drosseln wird, weil die aktuellen Gaspreise ihre Erzeugnisse zu stark verteuern. Auch das könnte den industriellen Gesamtbedarf an Wärmeversorgung sinken lassen, schreibt die Leopoldina-Akademie.

Geringerer Ölverbrauch durch weniger Flüge

Neben dem Gas kommen auch mehr als ein Drittel der deutschen Ölimporte aus Russland. Davon wiederum werden 70 Prozent im Verkehr für Autos, Schifffahrt und den Flugverkehr genutzt. Das Öl brachte Russland im vergangenen Jahr 55 Milliarden Euro ein. Wie lässt sich diese Abhängigkeit in kürzester Zeit reduzieren?

Über Spritsparen beim Auto wurde schon einiges geschrieben: Ein Tempolimit von 100 Kilometer pro Stunde etwa könnte 3,7 Milliarden Liter Benzin pro Jahr einsparen, sagt die Deutsche Umwelthilfe. Das entspricht etwa 10 Prozent des Gesamtverbrauchs. Auch autofreie Sonntage wären wie schon in der Ölkrise 1973 ein Mittel, um unabhängiger vom russischen Öl zu werden. 

Noch nicht diskutiert wird, wie der Flugverkehr eingeschränkt werden kann. Eine in der Klimapolitik schon lange diskutierte Maßnahme ist beispielsweise das Verbot von Kurzstreckenflügen, die mit Bahnfahrten ersetzt werden könnten. Nach einer aktuellen Berechnung der Umweltorganisation Greenpeace fliegt jedes vierte Flugzeug mit russischem Öl. Das ist in diesen Kriegszeiten ein Problem, aber auch für die Klimaziele: Nirgendwo sonst im Verkehr steigen die Emissionen so rasant wie im Flugverkehr. Ein Verbot von Kurzstreckenflügen, die meist von Geschäftsreisenden genutzt werden, sind noch nicht in der Diskussion. Obwohl die Bevölkerung dahinter stünde: Mehr als 60 Prozent befürworten laut einer Umfrage dieses politische Verbot.

Auf lange Sicht helfen erneuerbare Energien

Wenn Verbraucherinnen und Verbraucher Energie sparen, muss weniger fossile Energie erzeugt und importiert werden. Um den weiterhin bestehenden Bedarf klimafreundlich und unabhängig zu stillen, müssen allerdings auch so schnell wie möglich die erneuerbaren Energien ausgebaut werden. Offiziell wollen sowohl Deutschland als auch die Europäische Union bis 2030 unabhängig von russischen Kraftstoffen werden. „Mit erneuerbaren Energien können wir uns aus der Abhängigkeit von totalitären Staaten befreien und unser Energiesystem auf eine klimaneutrale Erzeugung umstellen. Deshalb brauchen wir jetzt einen nationalen Kraftakt zum Ausbau der erneuerbaren Energien“, sagt Energieexperte Bruno Burger.

Bisher wurde der massive Ausbau von erneuerbaren Energien vor allem von CDU- und FDP geführten Ländern systematisch ausgebremst. Ein Beispiel: In Bayern dauert es fünf bis zehn Jahre, um ein Windrad zu bauen, weil die Genehmigung so langwierig ist. „Die Alternativen zu importiertem Gas und Öl wurden lange Zeit politisch gebremst“, sagt auch Claudia Kemfert, Umweltökonomin am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und langjährige Verfechterin einer Energiewende. „Wir können uns bis 2030 zu hundert Prozent mit erneuerbaren Energien versorgen. Wenn wir zugleich noch Energie einsparen, geht es auch einige Jahre früher.“

Pro Tag müssten sieben Windanlagen geschaffen werden, auch alle Dächer sollten künftig Solarpaneele tragen, sagt Kemfert. Der schnelle und massive Ausbau scheitere aber an langen Planungsverfahren und mangelnden Fachkräften. Für die Expertin ist dies der „Flaschenhals“, der in den vergangenen Jahren alles verzögert hat. „Beides kann mit politischem Willen und damit verbunden mehr öffentlichen Investitionen überwunden werden.“ Etwa mit einer schnellen Task-Force, die den Behörden in den Ländern und Kommunen helfe, passende Flächen für Windräder und Solaranlagen auszuweisen. 

„Wenn wir alles elektrifizieren – den Verkehr, die Industrie, die Heizung in Häusern durch Wärmepumpen – halbiert sich automatisch der Primärenergiebedarf. Das ist in weniger als zehn Jahren zu stemmen“, sagt Kemfert.

Erneuerbare Energien: Kompletter Umstieg in 10 oder 20 Jahren?

Daran wiederum arbeitet das Wirtschafts- und Klimaministerium. „Jedes Windrad, jede Solaranlage machen Deutschland und Europa unabhängiger von Autokraten wie Putin“, sagt der grüne Bundestagsabgeordnete Lukas Benner. Die Regierung wolle den kompletten Umstieg auf erneuerbare Energien bis zum Jahr 2035. Der Jurist Benner arbeitet im Rechtsausschuss des Bundestages daran, das Planungs- und Genehmigungsrecht für erneuerbare Energien zu vereinfachen. „Wir wollen die Verfahren zeitlich straffen, stärker digitalisieren und behördliche Bewertungsmethoden vereinheitlichen.“ Etwa, indem künftig bundeseinheitliche Kriterien für die artenschutzrechtliche Prüfung festgelegt und Genehmigungen von Wind- und Solaranlagen abgefragt würden. Auch die Akzeptanz von Windrädern soll gesteigert werden. „Wir wollen die Bürgerinnen und Bürger frühzeitig und effektiv am Verfahren beteiligen und finanzielle Beteiligungsmöglichkeiten der lokalen Bevölkerung stärken“, sagt Benner.

Aber ausgerechnet der Bundesverband Solarwirtschaft sieht den Zeitplan skeptisch. „Deutschland kann sich erst im Laufe der kommenden 20 Jahre unabhängig von fossilen Energieimporten machen“, sagt Carsten Körnig, Hauptgeschäftsführer des Verbandes. Zwar sei es möglich, durch einen schnellen Ausbau von Photovoltaikanlagen und Solarthermie unabhängiger von russischen Importen zu werden. Kompensieren ließen sich die Importe jedoch nicht. „Auch nicht im Mix mit anderen erneuerbaren Energien.“

Kurz- bis mittelfristig müssten für eine Übergangszeit andere Länder fossile Kraftstoffe nach Deutschland liefern, prognostiziert Körnig. Dies könne eine Alternative zu dem Hochfahren inländischer Atom- und Kohlekraftwerke sein, „wovon wir dringend abraten.“

Solarausbau: Fachkräfte sind ausgebucht und es fehlt an Material

Wie schwierig es im Alltag ist, fossile Brennstoffe kurzfristig zu ersetzen, zeigt ein Blick nach Baden-Württemberg. Das Bundesland hat sich vorgenommen, bis 2040 klimaneutral zu werden. Ralf Bültge-Bohla ist Klimamanager und Teil der Task-Force Klima und Umwelt in Reutlingen. Die Stadt ist 2020 dem Klimaschutzpakt des Landes beigetreten und strebt an, die Verwaltung, die Eigenbetriebe und die Tochterunternehmen bis spätestens 2040 klimaneutral aufzustellen. 

Die Aufgabe von Ralf Bültge-Bohla ist es, dieses Ziel in der Region umzusetzen. „Wenn wir als Stadt bei diesem Thema nicht vorangehen und Erfolge vorzeigen, dann können wir von den Bürgern auch nichts fordern.“ Spricht man mit Bültge-Bohla über den Ausbau von erneuerbaren Energien im Alltag, wird schnell klar, dass viel Wille da ist, sowohl in der lokalen Politik als auch in der Bevölkerung. „Die Energieberater in der Region bekommen gerade sehr viele Anfragen.“ Besonders gefragt seien Informationen zu Photovoltaikanlagen für die Dächer oder Alternativen zu Gas- und Ölheizungen. 

Seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine sei der Beratungsbedarf in der Bevölkerung noch mal gestiegen, sagt Bültge-Bohla. Doch kurzfristig umzurüsten sei schwierig. „Die Energieberater sind bis Mai ausgebucht.“ Dazu komme, dass es gerade beim Photovoltaikausbau rechtlich schnell kompliziert werde, sagt der Klimaschutzmanager. Die nächsten Hürden sei der Fachkräftemangel und Lieferengpässe. „Die Handwerker warten hier teilweise bis zu sechs Monate auf Material für die Installation von Photovoltaikanlagen.“ 

Für Bültge-Bohla ist klar, dass es nun an der Politik ist, für gesetzliche Lösungen zu sorgen. Dazu gehöre ein Abbau von Bürokratie und eine bundesweite Photovoltaik-Pflicht für die Dächer. „Wir brauchen einen gesetzlichen Rahmen, alles muss ineinander greifen, sonst wird der Wandel nicht funktionieren.“

(Quelle: correctiv)