Kolumbien Massive Polizeigewalt gegen Demonstrierende

Seit dem 28. April kommt es in verschiedenen Landesteilen zu überwiegend friedlichen Demonstrationen gegen den von Präsident Iván Duque vorgelegten Gesetzesentwurf zu einer Steuerreform. Sicherheitskräfte lösen die Proteste regelmässig auf und dies häufig mit Gewalt. Am 1. Mai kündigte der Präsident den Einsatz des Militärs an «in jenen Städten, wo ein hohes Risiko für die Bevölkerung besteht» und betonte: «Ich möchte eine deutliche Warnung an jene aussprechen, die mittels Gewalt, Vandalismus und Terrorismus versuchen, unsere Gesellschaft einzuschüchtern und glauben, dass sie auf diese Weise die Institutionen zum Einbrechen bringen».

«Die Unzufriedenheit und die Proteste der Bevölkerung gegen die als ungerecht empfundene Steuerreform, dürfen nicht als Vandalismus oder Terrorismus diskreditiert werden. Amnesty ruft die Regierung dazu auf, die mehrheitlich friedlichen Proteste nicht mit Repression und Gewalt niederzuschlagen», kommentierte Erika Guevara Rosas, Direktorin für die Region Amerikas bei Amnesty International.

Gewalt gegen Demonstrierende und Einschüchterung von Journalisten

Organisationen der Zivilgesellschaft meldeten am 3. Mai insgesamt 26 Todesopfer infolge der Repression durch die Nationalpolizei und 761 willkürliche Inhaftierungen. Ausserdem berichteten sie im Zusammenhang mit den Demonstrationen von 142 misshandelten Personen, neun Betroffenen von sexualisierter Gewalt und 56 Verschwundenen. Dazu kamen Anzeigen wegen Angriffen auf Journalist*innen, insbesondere tätliche Angriffe, willkürliche Inhaftierungen und Zerstörung von Arbeitsmaterial.

«Die kolumbianischen Behörden müssen die Klagen wegen unverhältnismässiger Gewalt seitens der Behörden gegenüber den Demonstrierenden umgehend und unabhängig untersuchen. Bei den Protesten sind Dutzende Menschen ums Leben gekommen oder wurden verletzt, es kam zu willkürlichen Inhaftierungen und Fällen von Verschwindenlassen. Die freie Meinungsäusserung muss geschützt sein, Journalistinnen und Journalisten müssen ihre Tätigkeit ohne Gefahr ausüben können», so Erika Guevara Rosas.

Tödliche Waffen gegen friedlich Demonstrierende eingesetzt

Amnesty International hat mittels der Analyse von audiovisuellem Material den Einsatz tödlicher Waffen durch die Polizei in verschiedenen Teilen des Landes bestätigt. Die Sicherheitskräfte verwendeten auch Waffen, die nicht tödlich sind, aber verheerende Verletzungen verursachen können, wie Tränengas und Wasserwerfer.

Aus dem gesichteten Material geht beispielsweise hervor, dass am 30. April in Cali das Gewehr Galil Tavorn zur Auflösung von Demonstrationen eingesetzt wurden und, dass die Polizei in Popayán am 2. Mai mit halbautomatischen Waffen auf unbewaffnete Demonstrierende zielte. Ausserdem verifizierte die Organisation, dass am 1. Mai in Bogotá aus einem gepanzerten Fahrzeug mit scharfer Munition geschossen wurde. Der Einsatz all dieser Waffen zur Auflösung vom Demonstrationen ist nach internationalen Standards untersagt.

Das gesichtete Material weist darauf hin, dass es sich bei den beschriebenen Vorkommnissen nicht um  isolierte oder sporadische Handlungen handelt, sondern dass Menschenrechtsverletzungen systematisch im ganzen Land verübt werden.

Völkerrechtliche Standards verletzt

Der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte gibt vor, dass die Mitgliedsstaaten einschliesslich Kolumbien, «den Einsatz der Streitkräfte zur Kontrolle von Unruhen im Land extrem einschränken müssen, da diese dafür ausgebildet werden, den Feind zu besiegen und nicht für den Schutz und die Kontrolle der Zivilbevölkerung, wie die Ausbildung der Polizeikräfte».

Auch angesichts von Vorwürfen, dass Demonstrierende bei einigen Protesten Gewalt angewendet haben, stehen die Behörden in der Pflicht, alle geeigneten Massnahmen zu ergreifen, um gegen solche Gewalt vorzugehen und gleichzeitig sicherzustellen, dass diejenigen, die friedlich protestieren, diesen Protest fortsetzen können.

Neue Steuerreform darf nicht diskriminierend sein

Angesichts der Ankündigung eines neuen Gesetzes zur Steuerreform muss die Regierung sicherstellen, dass jegliche Steuerpolitik im Einklang mit den internationalen Menschenrechtsverpflichtungen Kolumbiens konzipiert und umgesetzt werden muss. Das bedeutet, dass die Massnahmen zeitlich begrenzt, angemessen und verhältnismässig sind, dass weniger restriktive Alternativmassnahmen ausgeschöpft werden und dass eine echte Beteiligung der betroffenen Personen und Gruppen gewährleistet ist. Die Regierung sollte dringend eine Bewertung der menschenrechtlichen Folgen dieser Massnahmen vornehmen, um sicherzustellen, dass sie nicht diskriminierend sind und dass sie insbesondere die Rechte historisch marginalisierter Gruppen wahren. Auch der Kontext der Corona-Pandemie und deren Auswirkungen müssen dabei berücksichtigt werden.

Angesichts der Ankündigung weiterer Demonstrationen fordert Amnesty International die Behörden auf, das Recht der kolumbianischen Bevölkerung auf friedliche Proteste zu garantieren und erinnert Präsident Iván Duque daran, dass der Einsatz der Streitkräfte zur Kontrolle von Demonstrationen nur das Risiko weiterer Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen nach internationalem Recht erhöht.

(Quelle: Amnesty International)

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