Auszug aus dem Buch
Vorwort: Das Buch des Zürcher Foto-Journalisten Gerd Michael Müller nimmt Sie ab den wilden 80er Jahren mit auf eine spannende Zeitreise durch 30 Länder und 40 Jahre Zeitgeschichte mit Fokus auf viele politische Vorgänge in Krisen-regionen rund um den Globus. Er beleuchtet das Schicksal indigener Völker, zeigt die Zerstörung ihres Lebensraumes auf, rückt ökologische Aspekte und menschenrechtliche Schicksale in den Vordergrund und analysiert scharfsichtig und gut informiert die politischen Transformationsprozesse. Müller prangert den masslosen Konsum und die gnadenlose Ausbeutung der Ressourcen an, zeigt die Auswirkungen wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und politischer Prozesse in einigen Ländern auf und skizziert Ansätze zur Bewältigung des Klimawandels. Pointiert, hintergründig, spannend und erhellend. Eine gelungene Mischung aus globalen Polit-Thrillern, geho-bener Reiseliteratur, gespickt mit sozialkritischen und abenteuerlichen Geschichten sowie persönlichen Essays – den Highlights und der Essenz seines abenteuerlich wilden Nomaden-Lebens für die Reportage-Fotografie eben. Es erwartet Sie eine Reise durch die epochale Vergangenheit und metamorphorische Phasen vieler exotischer Länder rund um den Globus. Nach der Lektüre dieses Buchs zählen Sie zu den kulturell, ökologisch sowie politisch versierten Globetrotter.
Durch die Kooperation mit Singapore Airlines, die gerade ihren Anfang nahm und dank Chrstina Hollenweger über 15 Jahre lang anhielt, brachte mich nach Vietnam zu einer Zeit, als die kriegsversehrte Nation noch am Boden lag und die Bevöl-kerung noch vor Hunger und Entbehrungen darbte. Doch von da an entwickelte sich Vietnam schneller als ein Polaroid-Foto. Ho-Chi-Mingh hat abgedankt – Honda und Coca Cola sind «in» geworden. Spektakuläre Landschaften, unverbrauchte Res-sourcen, faszinierende, uralte Kulte der Minoritäten und als Kontrast das schnelle Leben der Kinhs in einer turbulenten Aufbruchphase – Vietnam ist ein Land voller Wunder, Wonnen und Widerspenstigkeiten auf dem Weg zwischen gespenstischer Vergangenheit und hoffnungsgeladener Zukunft.
In den Strassen Saigons, dem heutigen Ho-Chi-Mingh City, spielte sich der verrückteste Tanz auf zwei Rädern ab, den man sich vorstellen kann: Tausende von Moped-FahrerInnen brausen oft mit der ganzen Familie, also auch schon Mal zu Viert kreuz und quer, hupend und knatternd durch die Strassen und auf die Kreuzungen zu, verweben sich dort zu einem dichten Knäuel, quetschen und quengeln sich durch den verqueren Richtungs-strom und stieben kurz darauf wieder wie ein FIschschwarm auseinander. Halsbrecherische Manöver sind die einzige Ordnung und verlässliche Konstante in diesem Verkehrschaos. Wer sich nicht selbst auf so ein gemietetes Moped wagt, kann sich von einem Cyclo-Fahrer durch die Strassen kutschieren lassen.
Der Mobilitätswahn signalisierte damals die ungezügelte Aufbruchstimmung und spiegelte den «song voi», das schnelle Leben wieder, dass die Bewohner von «Motorroller City» wie ein Fieber ergriffen hatte. Für Vietnams Jugend, die den zähen und blutigen Befreiungskampf nur noch aus den Schulbüchern kennt, sind Coca Cola, Hamburger und Honda wichtiger als Ho Chi Minghs Revolution. Frech geschminkte Mädchen in knallengen Jeans, glutroten Cocktailkleidern oder dottergelben Hot Pants, allesamt auf High Heels stolz durch die Strassen stolzierend, verkörperten den westlich orientierten Trend und kontrastierten das Bild traditionell gekleideter Frauen im blütenweissen, halbdurchsichtigen «ao dais» mit flatternden Haaren wie Feen auf ihren Fahrrädern über den glühenden Asphalt hinweg glitten.
Durch die «Doi-Moi-Politik», die vietnamesische Perestroika Richtung Marktsozialismus, hat die Metamorphose vom abgehalftertem Kommunismus zum hemmungslosen Konsum rasend beschleunigt und im Land des aufsteigenden Drachens eine gewaltige unternehmerische Energie entfacht. Die Machtelite visierte damals bis zum Jahr 2000 den Beitritt zum Kreis der «asiatischen Tiger» zu schaffen und den Tourismus mächtig ankurbeln zu können. Und sie schafften beides.
Ho-Chi-Mingh-City und Hanoi tickten damals komplett anders und unterschieden sich wie Tag und Nacht. In der 1600 Kilometer nördlich von Ho-Chi-Mingh-City gelegenen Machtmetropole der kommunistischen Partei, spielte sich das Leben weitaus gemütlicher und beschaulicher ab, gedieh die neue Freiheit verhaltender und auch das Klima wahr angenehmer. Der Einfluss der Franzosen, die Hanoi 1883 zur Verwaltungsstadt von Tonkin und später von ganz Indochina erklärten, ist noch immer deutlich zu sehen und das nicht nur anhand der französischen Baguettes, die in Vietnam Tradition haben, sondern vereinzelt auch noch an den alten Kolonialstilbauten, welche das Savoir vivre der Franzosen und ihren Boheme-Einfluss auf die Kultur, die Malerei und die Infrastruktur wiederspiegelten und wenig mit der hektischen, freisinnigen Vitalität des Südens zu tun hatte. Aber natürlich hat auch hier der Dollar den Dong in eine blosse Zuschauerrolle gedrängt.
Zwischen den beiden Metroplen liegen die mystischen Welten der Bergvölker, wie die der Thai, der Khmer, Kohor und der Halbnomanden, den Hmong. Die 53 Minoritäten stellen zusammen zwar nur 10 Prozent der Bevölkerung der Kinh, wie sich die VietamesInnen selbst nennen, aber sie bewohnten damals fast siebzig Prozent der vietnamesischen Landoberfläche. Ausser der Region Lang Bien bei Dalat, wo sich am Fusse des Nui Baz (Frauenberg). In der «verbotenen Gegend» des gebirgigen Hinterlandes, eines der letzten Matriarchate verbirgt, gab es noch weitere Sperrbezirke für Ausländer entlang der chinesischen Grenze.
Die Hauptachsen vom Mekong Delta über Saigon nach Dalat im südvietamesischen Hochplateau und via dem Badeferienort Nha Trang bis zur alten Kaiserstadt Hue hoch waren dank den Amerikanern gut ausgebaut, die Strasse nach dem Wolkenpass bis nach Hanoi hingegen katastrophal, als wäre sie mit einem Bombenteppich überzogen worden, was ja auch stimmt. Zudem sind die Passstrassen ins Hochland in der Regenzeit oft unpassierbar.
Zu den touristischen Highlights gehörten: Da Lat, das «Valle d‘amour» der Hochzeitspärchen, der Ferienort der reichen aus dem damaligen Saigon und davor für die Franzosen. Ein schmuckes, melancholisch verträumtes Städtchen, mit gediegenen provenzialischen Kolonialstilhäusern und um den Seufzer-See, eingebettet in die Hügelzüge mit smaragdgrünen Reisterrassen, Gemüsefeldern, Reben, Kaffe- und Teeplantagen. Die Temperatur ist auch im Sommer moderat, das Klima angenehm kühl, wie in einem Schweizer Bergkurort.
Ferner: Der Badeferienort Nha Trang, ein quirliger Badeferienort, der mit einem malerischen Fischer-hafen, einer idyllischen Küsten- und Flusslandschaft, den Cham-Tempeln von Po Nagar (aus dem 7. Nis 12. Jahrhundert) sowie mit feinen französischen Strassencafés, schwülen Nachtclubs und ausgezeichneten Hotels sowie alle Facetten kultureller und touristischer Anreize. Auch Hue die Kaiserstadt am Parfümfluss mit den verbotenen Palästen, turmhohen Pagoden und prächtigen Boulevards zählt zu den schönsten Reisezielen Vietnams. Wer auch den Norden Vietnams bereist, sollte eine Schifffahrt durch die Halong Bay im Golf von Tonkin machen. Hast du die Bucht des herabsteigenden Drachens nicht besucht, hast du Vietnam nicht gesehen, flötet die bildhübsche Auflugsagentin Thuy (was klares Wasser bedeutet). Eine Fahrt auf einer Dschunke durch die mit 3000 steil aus dem Meer ragenden Felsnadeln gespickte Bucht, fühlt sich an wie ein kleines Piratenabenteuer.
Zwar war die Prostitution schon seit den Tagen von Madame Nhu, der ebenso schlitzäugigen wie schlitzohrigen Schwägerin des Präsidenten Diems, gesetzlich verboten, das änderte aber damals nichts daran, dass mehr als eine halbe Million Frauen und minderjährige Mädchen die Bars und Bordelle Südvietnams bevölkerten und man überall viele dieser con gai sah. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung und dem Zustrom devisenkräftiger Ausländer war die Prostitution wieder stark angestiegen. Das lebhafte Interesse und betörende Lachen einer Phu Nu Viet Nam könnten also auch von rein geschäftlicher Natur her gerührt haben. Vielen ging es wohl ums nackte Überleben zur Linderung der Armut und des Hungers. Denn selbst Mädchen im zarten Alter scheuten sich nicht mir ihre Schwester feilzubieten. Wie das zu dem konfuzianischen Weltbild passte, war mir nicht klar.
Handkehrum gab es bereits in der Dong-Son Kultur (700 bis 257 v. Chr.) etablierte sich fortan zusehends eine matriarchalisch dominierte Gesellschaft, die bekannt für ihre freizügigen Sitten und den konfuzianisch patriarchalisch eingefleischten Chinesen ein steter Dorn im Auge als auch die Ursache vieler Kriege. Die Vermutung, dass es die selbstbewussten und emanzipierten Frauen Vietnams sich nicht nur das gleiche Recht wie die Männer heraus nahmen, wobei auch die Inanspruchnahme von Liebesdiensten fast zum guten Ton gehörte, wurde weder bestätigt noch dementiert.
Weise sprach Konfuzius: «Mit Frauen und Untertanen umzugehen ist äusserst schwierig». Um die Schwierigkeiten zu verringern, ersann der chinesische Philosoph drei patriarchalische Regeln, die lange Bestand hatten. Die Frau hat sich als Mädchen, dem Vater, als Ehefau dem Mann und als Witwe dem ältesten Sohn unterzuordnen. Der Mann aber hatte alle Freiheiten, er durfte seine Frau verstossen und seine Töchter verkaufen. Dergestalt patriarchalische Vorstellungen kamen in der vietnamesischen Gesellschaft schlecht an. Auch wenn der Konfuzianismus rund hundert Jahre vor dem Christentum in Vietnam ankam und den Ahnenkult verdrängte, vermochte sich er die seit der Dong-Son Kultur etablierte Matriarchat nicht beseitigen.
Kurz nach Christi Geburt stellten sich die Trung Schwestern an der Spitze des Lac-Heeres und – auf ihren Kampf-elefanten – den Feinden entgegen. Trotz Heldinnen hafter Gegenwehr wurden sie schliesslich besiegt. Aber statt vor dem nach Rache dürstenden Gegner zu kapitulieren, gingen sie lieber in den Fluten des Roten Flusses unter, als sich dem übermächtigen Gegner zu ergeben. So werden die Hai-Ba Trung Schwestern bis heute als Heldinnen verehrt. Das machte sie auch für mich begehrt und so beschloss ich, in eines dieser Matriarchate zu gelangen, die sich ja in einem für Ausländer gesperrten Bezirk befanden. Mit Hilfe eines in Saigon lebenden Schweizers, der einen vietnamesichen Journalisten kannte, der wiederum Kontakte zu Medienschaffenden in einem dieser Gebiete pflegte, gelangte ich schliesslich im Kofferraum des lokalen Radioteams versteckt in das Matriarchat und am Ende des Tages auf dem gleichen Weg auch so wieder heraus.
Dazwischen standen spannende Stunden am Fusse des Nui Baz. Da und dort ragten die spitzen Strohhüte der Bäuerinnen über die Bepflanzung hinaus, bewegten sich rythmisch vorwärts und mit riesigen Heuballen beladene Frauen stapften breitbeinig über die dampfende Erde an uns vorbei. Unübersehbare Schilder mahnten uns unmissverständlich (wenn man vietnamesisch konnte), dass wir uns hier in Lang Bien in einer «verbotenen Zone» befänden. Bei unserer Ankunft im Dorf wurden wir kaum beachtet. Üblicherweise strömte das ganze Dorf zusammen und du wirst von einer Kinderschar umringt, die nach Bonbons betteln.
Hier interessanterweise nicht. Wir wandten uns an einen alten Mann, der im kühlen Schatten eines Tamarindenbaumes bei ein paar spielenden Kindern sass und fragten ihn nach dem oder der Dorfälteste/n, worauf er sich erhob und uns zu einer Hütte führte, die einzig von glimmenden Holzstücken beleuchtet wird, worauf erst vier Frauen mit mongolischen Gesichtern den dunklen Raum betraten, ein tönernes Gefäss vor unsere Füsse stellten und uns zum Trinken aufforderten. Schwerer, süsslicher Wein rannte durch unsere Kehlen, der eher schon ein alkoholischen Dicksaft glich.
Dann kommt das Gespräch über ihre Bräuche in Gang. Ihre Dorfgemeinschaft umfasst rund 35 Familien und über 300 Seelen. Wir kommen gleich zur Sache und wollen mehr über die matriarchalischen Strukturen wissen. Mit grosser Selbstverständlichkeit erzählen sie, dass hier die Frauen einen Mann aussuchen und dessen Familie um die Hand des Auserwählten bitten; dass der Mann nach der Heirat den Namen der Frau annimmt und in ihr Haus einzieht; dass das Erbe beim Tod der Frau an die älteste Tochter übergeht und dass der Witwer oft von der ältesten Schwester der Verstorbenen geheiratet wird. Will er dies nicht, muss er auf dem Grab seiner Frau einen Baum pflanzen und 13 Monate abwarten, bis er sich wieder vermählen darf.
Dass im Matriarchat nicht unbedingt alles viel idyllischer zugehen muss, als in männerdominierten Gesellschaften, zeigt sich an einem brutalen Brautschau-Wettkampf, dem erst französische Missionare ein Ende setzten. Begehrten zwei Frauen brennenden Herzens ein und denselben Mann, kam es unter Aufsicht der Dorfältesten zu einem brutalen Machtkampf. Die Frauen mussten ihre Köpfe tief ins Wasser des Dorfbaches strecken und die, die länger unten blieb, hatte gewonnen. Die Verliererin ihr Leben verwirkt. Es war also eine Entscheidung und ein Kampf auf Leben und Tod. Und so kam es auch vor, dass sich eine der Frauen angesichts einer langatmigeren Konkurrentin auf verlorendem Posten sahen, ihr Haar unter Wasser an einer Baumwurzel verknüpfte, um nicht früher als die Konkurrentin aufzutauchen und so einen wenngleich todbringenden Sieg errang. Denn die Verliererin wurde ja ebenfalls in den Tod geschickt. So musste der Bräutigam wieder auf Brautschau.
Bei den Bang-Tin, Lin-Hot und Chinh-Lah, wie die meisten Familien heissen, haben die Frauen zwar das Sagen, aber sie verrichten auch die Hauptarbeit im Haushalt auf dem Feld und bei der Kindererziehung. Die Männer führen im Vergleich ein geradezu feudales Leben. Ihre Arbeit beschränkt sich auf den Hausbau und Ausbau der Wasserleitungen. Daneben bleibt ihnen viel Zeit zum Spielen und Tratschen. Wichtige Entscheide in der Familie und im Geschäft, bei der Verwaltung des Geldes sowie bei der Familienfürsorge sind aber unbestrittene Domänen der Frauen. Wenn die starken Lat-Frauen von Lang Bien auch nicht die Gesellschaftsordnung von Onkel Ho(dessen Name der Aufklärende bedeutet), anerkannten, so waren sie mit seinen Worten an die starken Frauen Vietnams einverstanden: «Anh huug, bat khuat, trung han, dam dang» – Die vietnamesische Heldin kämpft unerbittlich, patriotisch und standhaft bis zur Selbstaufgabe.
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