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Jährlich starben Hunderte an Heroin

Auszug aus dem Buch des Zürcher Fotojournalisten Gerd M. Müller. Das ganze Manuskript ist als E-Book-Version auf www.self-publishing.com zu finden.

Ich bin damals schon mit 17 Jahren aus der Elternwohnung aus- und in eine Wohngemeinschaft (WG) an der Forchstrasse gezogen, in der Rico B. und Tommy M., zwei Literaten wohnten und die Kulturzeitschrift «Babayaga» (russische Hexe) herausgaben, die in der Spinnerei Wettingen von Kaspar P. gedruckt wurde. Andy, ein weiterer Wohngenosse arbeitete im grössten Plattenladen von Zürich und er hatte seine über 1200 LPs (Schallplatten) um-fassende Kollektion in unsere WG verfrachtet. Dadurch eröffnete sich ein unfassbares musikalisches Universum für uns und wir schwebten musikalisch im siebten Himmel. Von da an ging die Post ab, denn wir waren alle „sub-versive“ Elemente in den Augen der Obrigkeit. „Lieber subversiv, als konservativ“, sagten wir uns gelassen und legten los, die Welt zu verändern. Damals durften unverheiratete Paare noch nicht zusammen leben. Da uns dies offensichtlich „Wurscht“ war, sah die Polizei öfters mal ungebeten in der WG rein. Da sich dort in der zu unterst befindlichen 5-Zimmer Wohnung zumeist Tag und Nacht gut 10-15 Leute aufhielten, waren die Zweier-Patrouillen leicht überfordert und zogen unter Hundegebell und jugendlichen Beifall rasch wieder ab.

Umso mehr wurden wir dafür bespitzelt, da hier auch viele «AJZ»-Aktivistinnen und Aktivisten ein und aus gingen. Doch statt «aus dem Staat Gurkensalat» zu machen, explodierte das Kreativpotential in der Gastronomie und Clubszene, in der graphischen Industrie und der Medienlandschaft. Schliesslich ging es uns ja nicht um die eine Konterrevolution und Abschaffung der Demokratie, der Etablierung einer Anarchie oder dem Wunsch ein kommunistisches Regime anstelle von Parlament und Bundesrat zu schaffen, sondern schlicht um mehr Freiheit und Selbstbestimmung in der Freizeit, im Beruf, in der Familie, bei der Sexualität, beim Drogenkonsum und dem Nachtleben. So wurden die Bewegten medial sehr kreativ, gaben Strassenzeitungen heraus, druckten Flyer und Poster, hängten sie auch überall auf (Wildplakatierung) und probierten allerlei Neues aus. Zürich entwickelte sich von einem Provinznest zur Weltstadt und die Aufbruchstimmung führte zu einem der bedeutendsten, gesellschaftspolitischen und kulturellen Wandel der letzten 50 Jahre in der Schweiz.

Sobald das «AJZ» beim heutigen Carparkplatz aufging, machten wir uns daran, das alte Fabrikareal und Gebäude umzubauen und einzu-richten. Es wurden allerlei Gruppen gebildet: Handwerkergruppen, die «Beizengruppe», die «Frauengruppe», die «Drogengruppe» und die «Kurvengruppe», also für Jugendliche, die von zu Hause ausgebüxt und polizeilich ausgeschrieben waren. Zwei meiner Freunde, die Rimoldi-Brüder, waren in der «Beizengruppe», meine erste und viel ältere Freundin Michele in der «Kurvengruppe» und ich bei der „Drogengruppe“. Es war eine rauhe, aber herrliche Zeit, eine grandiose Aufbruchstimmung.

Das «AJZ» war in der Tat sehr autonom und wir alle eine grosse bunte Familie von kreativen Individualisten, Alchemisten, Anarchisten und Überlebenskünstler. Doch einhergehend mit der Heroinschwemme kam es zu vielen sehr jungen Toten. Die Jüngsten waren gerade mal 13 Jahre alt. Auch Mandy, meine damals ein Jahr jüngere, also 17 jährige  Freundin starb später an einer Überdosis. Ich hatte stets Glück, doch das war zu viel für mich und für die Stadt Zürich. Die unmenschliche Misere dauerte so lange, bis das Methadon-Programm auch infolge von HIV-Infektionen zum Zug kam und Dr. Uchtenhagen zusammen mit der Stadträtin Emilie Lieberherr die Junkies von der Gasse holte und sie nun endlich menschenwürdig im Methadon-Programm betreut wurden. Das war ein mutiger Schritt in die richtige Richtung und das Modell wurde auch international kopiert.

Das AJZ war unsere Heimat. Hier traffen wir uns, hier schliefen wir oft, hier engagierten wir uns sehr kreativ. Einer der Höhepunkte zu dieser Zeit war das spontane Konzert von Jimmy Cliff auf dem Carparkplatz. Er kam eines Morgens ins «AJZ» mit seiner Entourage und war begeistert von der Zürcher Jugend Bewegung und dem autonomen Jugendzentrum Und zwar so sehr, dass er sich zu einem spontanen Konzert hinreissen liess und wir in Windeseile versuchten eine Bühne zu bauen und die Installationen für die Musikanlage und die Lautsprecher vorzunehmen. Radio 24, Roger Schawinskis Piratensender auf dem Piz Gropero in Norditalien erfuhr davon und so sprach sich das Spontankonzert schnell in der ganzen Stadt rum. Ab 16.00 Uhr strömten immer mehr Jugendliche zum AJZ und brachten den Tram und Strassenverkehr am Sihlquai zum Erliegen. Auf dem Platz fanden sich an die 3000 Personen zusammen, die frenetisch und musikalisch ebenso wie mit Marie-Jane voll berauscht mit Jimmy Cliff in Ekstase gerieten. „Unforgetable times, indeed – und prägende Momente für viele meiner Generation.“ Auch Bob Marley hat uns im AJZ besucht. Er war aber eher reserviert und mit sich selbst beschäftigt.

Während dieser Zeit verbrachte ich auch viel Zeit in der Roten Fabrik, die ebenfalls zu einem der wenigen Hot-Spots in Zürich für Jugend-liche der damaligen Zeit gehörte. Dort lernte ich auch meine dritte Freundin, eine ebenfalls sieben Jahre ältere Frau und Künstlerin namens Betty Weber kennen. Sie war eine Nubierin, also eine schwarze Frau und zudem eine sehr kreative Künstlerin. Ich hatte keine Berührungs-ängste zu reiferen Frauen jeglicher Hautfarbe und lernte zudem auf „alten Pfannen kochen“, wie wir damals eine Beziehung zwischen einem jüngeren Mann und einer älteren Frau salopp nannten.

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