Kritische Fragen zu stellen ist Adolf Muschgs Art des Patriotismus

Bern, 19.02.2015 – Die Rede von Bundesrat Alain Berset anlässlich der Verleihung der Schweizer Literaturpreise 2015 an Adolf Muschg.

Ich gebe zu, ich habe Adolf Muschg, den Träger des Grand Prix 2015, schon mehrfach zitiert, ohne ihn beim Namen zu nennen. Da muss man heutzutage ja vor allem als Politiker aufpassen. Aber mein fehlender Quellennachweis ist kein Fall für die Justiz, denn ich habe einfach unsere Verfassung zitiert: „Die Stärke des Volkes bemisst sich am Wohl der Schwachen.“ Diese Formulierungen aus der Präambel sind dem Autor zugefallen, als er mit hohem Fieber in einem Hotelzimmer in Disentis lag.

Disentis, das klingt fast wie Dissens. Was nicht schlecht passt: Adolf Muschg pflegte zeitlebens eine kritische Haltung zu seiner Heimat. Genauer, eine intime Halb-Distanz. Der Schweizer Illustrierten erklärte er vor 50 Jahren – er lebte damals in einer deutschen Universitätsstadt – er verkehre nur selten mit anderen Ausland-Schweizern. Grund: „Sie bekommen immer so schnell Heimweh-Augen“.

Die Schulen der Nation

O seine Schweiz: Sie hat ihn trotzdem nie losgelassen. Nicht damals in Deutschland, nicht später in den USA oder in Japan. Und wenn nicht die Zeilen in seinen Büchern von der Schweiz handeln, dann schaut sie doch immer wieder zwischen diesen Zeilen hervor, selbst in den Geschichten, die im Fernen Osten spielen.

Kann ein Patriot ein schwieriges Verhältnis zu seiner Heimat haben? Ich antworte mit einer Gegenfrage: Kann ein Patriot kein schwieriges Verhältnis zu seiner Heimat haben? Deren Schicksal ist ihm nicht gleichgültig. Eben das macht es ja schwierig.

Der Geehrte startete ins Leben als „Super-Schweizer“ – das sind seine eigenen Worte. Heute gilt er als „an der Schweiz Leidender“.

Dans l’intervalle, il est passé par les écoles de la nation. Ces « trois bonnes écoles suisses » n’étaient toutefois pas des écoles tout à fait ordinaires. Voici la description qu’il en fait :

«La première école, c’était le service militaire, que j’ai toujours accompli à Genève, à la plaine de Plainpalais. La seconde, le groupe d’Olten ou, pour la première fois, j’ai vraiment connu des collègues suisses romands, comme Alexandre Voisard, qui est devenu un ami, mais aussi Franck Jotterand, de la Compagnie des Faux-Nez, dont j’étais très proche. Nicolas Bouvier en était aussi. Ma troisième « bonne » école suisse fut la commission pour la Constitution. J’y connu Gilles Petitpierre, que j’aimais beaucoup. Nous travaillons tout naturellement de manière bilingue, pour ne pas dire trilingue : un séminaire supérieur de première qualité, c’était merveilleux. »

Ödön von Horvat écrivit un jour « Eigentlich bin ich ganz anders, nur komme ich so selten dazu », qu’il était au fond un autre, mais qu’il n’arrivait à l’incarner que trop rarement. Cette citation qui était pour lui une manière de dépeindre la nostalgie liée à ses rêves inaboutis pourrait aujourd’hui illustrer nos vies si compartimentées.

Le lauréat du Grand Prix, lui, n’a pas ce problème : Il peut rester lui-même et être aussi ses autres. C’est-à-dire une personnalité dotée d’une créativité hors normes et d’une érudition rare, à la fois écrivain, professeur et fin connaisseur du monde politique.

Was mich – gerade auch als Politiker – immer wieder beeindruckt: Adolf Muschg mutiert nicht zum Politiker, wenn er politisch argumentiert. Er bleibt stets Schriftsteller, er bleibt stets Gelehrter. Es geht ihm nicht um den Sieg in der Debatte und den Triumph über den Gegner, sondern um den hartnäckigen Hinweis, dass es vielleicht anders ist, anders sein könnte – oder anders sein sollte. Mehr will er nicht, aber auch nicht weniger.

O sein Heimatland!

Je apodiktischer die Stellungnahmen, desto höher die Wiedererkennbarkeit, so lautet ja die heimliche Formel der medialen Kampf-Rituale. Adolf Muschg aber verweigert sich sanft entschlossen diesem Schlagabtausch. Wenn er sich politisch einmischt, dann aus dem Geiste der Literatur, also ohne seine Empathie einfach abzustreifen. Deshalb trifft er den Kern dessen, was heute relevant ist.

Das grosse Ganze begreift nur, wer das Kleine und Konkrete erspürt und erkennt. Globalisierung, Krise der Mittelschicht, Niedergang des Westens: Je grösser die Schablonen unserer Wahrnehmung, desto wichtiger wird der genaue Blick auf die Verhältnisse.

O sein Heimatland – es lässt Adolf Muschg nicht los. Und unser Land gibt ja auch viel her: Es ist hoch komplex auf kleinem Raum. So komplex, dass man es nicht schubladisieren kann. Auch wenn man es hin und wieder versucht, im In- und im Ausland.

Die Schweiz ist eine sehr alte und eine sehr moderne Nation, in der seit jeher der Fall ist, was heute global gilt: Identitäten fliessen, zerfliessen, verfestigen sich neu. Offenheit und ständige Neuerfindung gehören zur Schweizer DNA. Ebenso landestypisch ist aber auch die hartnäckig vertretene Ansicht, dass unsere Identität unveränderlich sei – durch Zeit und Raum, auf ewig. Wir können eben nicht nur Dialekt, wir können auch Dialektik.

Ein anderes Schweiz-Narrativ

Adolf Muschg sieht die Schweiz heute als Land, das nicht sein ganzes kulturelles und politisches Potenzial ausschöpft. Dies im Gegensatz zu gewissen historischen Phasen im 18. und 19. Jahrhundert, als die Schweiz für viele ein Land der Hoffnung war. Eine stolze Republik, ein Hort der Freiheit mit internationaler Ausstrahlung, ein Leuchtturm der Bildung auch – von Lavater über Haller bis Rousseau.

Muschg ist ein Anwalt eines Geschichtsbewusstseins, das im offiziellen Narrativ unseres Landes nur am Rande vorkommt. Und auch, nein gerade in einem Supergeschichtsjahr wie 2015 muss die Frage erlaubt sein: Wäre diese Quelle unseres Selbstverständnisses vielleicht
besonders zukunftsträchtig? Adolf Muschg hat nie auf die Selbsthinterfragung verzichtet, nur um es einfacher zu haben im politischen Schlagabtausch. Das ehrt ihn.

Was ist eigentlich das Gegenteil eines Schlagabtauschs? Ist es das Einfühlungsvermögen, das Verständnis für die Biographie, die Weltsicht, das Weltempfinden des Gegenübers? Ist es die Liebe? Jedenfalls handelt es sich kaum um einen Zufall, dass der Geehrte auch ein grosser Erzähler von Liebesgeschichten ist.

Ob Prosa oder Politik. Adolf Muschg bleibt stets ein Spezialist des Fragens, des Befragens, das Infrage-Stellens. Gute Fragen führen ja nicht einfach zu schlüssigen Antworten, sondern zu noch mehr Fragen. Zu noch besseren Fragen.

Das kann gar nicht anders sein, nicht beim Thema Liebe und nicht, wenn es um die Schweiz geht. Also um jenes komplexe Land, in dem alles selbstverständlich scheint, aber kaum etwas selbstverständlich ist.

Noch bessere Fragen stellen: Das ist Adolf Muschgs Art des Patriotismus.

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