Pressestimmen zum Putschversuch in der Türkei

 

Wiedereinführung der Todesstrafe und schärfste Abrechnung mit seinen Feinden: Internationale Pressestimmen, wie Recep Tayyip Erdogan den Putschversuch nutzt, um seine Macht auszubauen – und  die Frage, wie Europa mit dem zu befürchtenden Machtmonopol Erdogans umgehen soll.

Süddeutsche Zeitung: Die Situation könnte skurriler nicht sein: Selbstverständlich verurteilt eine deutsche Kanzlerin oder ein amerikanischer Präsident den Militärcoup, weil selbstverständlich die Demokratie in der Türkei nicht von ein paar Obristen oder Generälen gesteuert werden kann. Das immerhin ist ein Fortschritt gegenüber alten Tagen, als der Putsch noch als Werkzeug der Wahl Unterstützung fand. Nun aber folgt dem Coup eine neue Welle der inneren Repressioin, was die Bündnisfähigkeit der Türkei noch mehr in Frage stellt.

n-tv (Online) : „Es sieht so aus, als habe Erdogan die breite Unterstützung für den von ihm geplanten Machtausbau. Die Abkehr des Landes von einer stabilen, friedlichen Demokratie scheint sich in höherem Tempo fortzusetzen. Bereits existierende Machtstrukturen könnten nach den aktuellen Entwicklungen mehr und mehr auf Verfassungs- und Gesetzesebene legitimiert werden. Zu befürchten ist ausserdem ein Brain drain des Landes. Es könnte eine Auswanderungswelle von jungen Intellektuellen und Kreativen folgen, für die es in ihrem eigenen Land immer schwierigere Lebens- und Entfaltungsmöglichkeiten gibt.“

Frankfurter Allgemeine: „Erdogans Ankündigung gnadenloser Säuberungen und seine Phantasie einer Reinigung des von einem ‚Virus‘ befallenen Volkskörpers sind Verirrungen, die beobachtet werden müssen und nicht geduldet werden können. Dazu ist die Europäische Union da. Aus ihr schallt es schon: Die Niederschlagung des Putsches sei kein Freibrief für eine Willkürherrschaft. Doch was will die EU machen? Erdogan braucht sie nicht – und tat das mit den Worten kund, die Türkei müsse niemanden fragen, um die Todesstrafe einzuführen. Der gestählte Herrscher vom Bosporus gilt nicht zuletzt Kanzlerin Merkel als verlässlicher Partner, der in der Flüchtlingskrise und in Sicherheitsfragen Wort hält. Es wird sich bald zeigen, wie viel die mahnenden Worte der Europäer gelten, die Erdogan gleich treu zur Seite gesprungen sind.“

Nach Putschversuch in Türkei: Erdogan will schnelle Beratungen über Todesstrafe

Vereinzelt haben Putschisten in der Türkei noch am Sonntag Widerstand geleistet. Präsident Erdogan will mit der Opposition über die Wiedereinführung der Todesstrafe verhandeln.

„Times“ (London): „Erdogan hat bereits vorgeschlagen, dieses ‚Geschenk Gottes‘ zur Wiedereinführung der Todesstrafe für Hochverrat zu nutzen. Von Griechenland und den USA hat er die Auslieferung von Opponenten gefordert, die er verdächtigt, an dem Putschversuch beteiligt gewesen zu sein, vor allem seinen Erzfeind, den muslimischen Geistlichen Fethullah Gülen. Die türkische Regierung täte gut daran, jetzt nachgiebig zu sein. Die Herrschaft des Gesetzes ist die einzige Garantie ihrer fragilen Legitimität und sollte nicht leichtfertig aufgegeben werden. Es sind bereits genug Menschen gestorben. Erdogans beste Hoffnung, an der Macht zu bleiben, ergibt sich aus der Einheit des Landes und internationaler Unterstützung. Nicht aus diktatorischer Arroganz. Er wird alle Freunde brauchen, die er bekommen kann.“

„Neue Zürcher Zeitung“ (Zürich): „Wer Erdogan kennt und weiss, wie hart und unnachgiebig er schon in der Vergangenheit reagierte, wenn seine Macht gefährdet schien, darf nichts Gutes erwarten. Vor allem die Gülen-Bewegung muss sich auf eine Hexenjagd neuen Ausmasses einstellen, denn nun soll auch das Ausland, das der Bewegung des Predigers Fethullah Gülen Raum gibt, mit Sanktionen belegt werden. Erdogan behauptet, dass sein früherer Weggefährte den Putsch vom amerikanischen Exil aus orchestriert hat. Dabei waren es die Gülenisten, die mit ihm zusammen die Entmachtung der Generäle eingeleitet hatten. In den höheren Offiziersrängen dürften sie keine Freunde haben. Doch der Hass auf die „Parallelorganisation“ hat bei Erdogan geradezu paranoide Züge angenommen. Der Putsch, von wem auch immer er geplant worden war, musste scheitern, so auffällig stümperhaft, wie er durchgeführt und vom Volk abgelehnt wurde. Es ist tragisch, dass hieraus aber nicht die türkische Demokratie, sondern nur Erdogan gestärkt hervorgehen wird. Ihm bietet der verhinderte Staatsstreich eine Gelegenheit zum finalen Rundumschlag. Ein ‚Geschenk Gottes‘ eben.“

„Die Presse“ (Wien): „Der Türkei wird es unter dieser Regierung nicht mehr gelingen, die Öffnung zu einer modernen, pluralistischen Gesellschaft fortzusetzen. Sie ist zu simpler Machtpolitik, Abschottung und Polarisierung zurückgekehrt. Diese Elemente werden voraussichtlich Erdoğans Zeit an der Staatsspitze verlängern, seine Anhänger noch stärker an ihn binden. Sie werden aber auch neue Konflikte schüren und die Wirtschaft des Landes gänzlich in den Abgrund treiben.“

„De Volkskrant“ (Niederlande): „Eine Machtübernahme durch das Militär hätte in der Türkei zu langanhaltender Unruhe geführt. Das hätte angesichts der strategischen Lage und der wichtigen Rolle der Türkei im westlichen Bündnis gegen die IS-Terrororganisation katastrophale Folgen für die ohnehin instabile Lage im Nahen Osten haben können. Politische Instabilität in der Türkei könnte ausserdem zu einem neuen Flüchtlingsstrom Richtung Griechenland und den anderen Staaten der EU führen. Doch diese Interessenlage darf für den Westen kein Grund sein, die Augen vor den bedenklichen Rückwirkungen zu schliessen, die der missglückte Putsch nun zu haben scheint. Erdogan hat den Putschversuch sofort genutzt, um seine Machtposition zu stärken und sich Gegnern seiner Politik zu entledigen.

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Über gmc

1992 gründete der Zürcher Fotojournalist Gerd Müller die Presse- und Bildagentur GMC Photopress und reiste hernach als Agenturfotograf und Fotojournalist in über 80 Länder. Seine Reportagen wurden in zahlreichen Reise- und Spa-Magazinen publiziert. 2021 publizierte er Auszüge aus seinem Buch Highlights of a wild life -Metamorphosen politischer und ökologischer Natur.

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